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Interview mit Dokumentarfilmerin Katja Herr"Der Katastrophenwinter war ein kollektives Erlebnis"

07. Februar 2023, 17:45 Uhr

Die Dokumentation "Sechs Tage Eiszeit - Der Katastrophenwinter 1978/79" erzählt die Ereignisse der Katastrophentage in der DDR und in der BRD. Im Interview verrät Filmemacherin Katja Herr, welche Zeitzeugen ihr besonders in Erinnerung geblieben sind.

Warum ist dieses Thema auch 40 Jahre danach erzählenswert?

Weil der Jahreswechsel 1978/79 ein kollektives Erlebnis war. Egal, wo wir während der Dreharbeiten hingekommen sind, ob wir auf Rügen, in Erfurt, Jena, Berlin oder auf dem Brocken waren, jeder, der damals gelebt hat, konnte sich an diesen Winter erinnern. Selbst die Reinigungskraft im Hotel, wo wir während der Dreharbeiten übernachtet haben, hat uns sofort ihre Erlebnisse von damals erzählt.

Welche Zeitzeugengeschichte ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Wir haben mit jedem der Zeitzeugen über mehrere Tage gedreht und da wachsen sie einem ans Herz. Aber es gab zwei, die mich überrascht und berührt haben. Der heute 85-jährige Landwirt Ulrich Lau war damals in einem volkseigenen Gut für einige tausend Tiere verantwortlich. Man hat bei ihm gemerkt, dass er trotz der Massentierhaltung in der DDR eine Beziehung zu den Tieren hatte und dass ihm ihr Schicksal richtig weh tat, dass es ihm nicht egal war, dass die Ferkel jämmerlich krepierten, weil die Rotlichtlampen ausfielen, weil man nicht genug Futter herankriegen konnte oder weil man die Kühe tagelang nicht melken konnte.

Der zweite Zeitzeuge war Wolfgang Buttler. Er war Frauenarzt auf Rügen und in unserer Planung sollte er die dramatischste Figur im ganzen Film werden. Er ist auf dem Weg zu schwierigen Geburten mehrfach im Panzer hängengeblieben, es gab wirklich dramatische Situation, wo er Kinder auf die Welt holen musste. Als er aber vor unserer Kamera saß, erzählte er das alles wie eine lustige Anekdote. Ich habe fieberhaft überlegt, was ich machen soll, denn ich wollte die Ereignisse genauso dramatisch erzählen, wie sie waren. Ich habe das Interview dann aber mit all seinen kleinen flapsigen Bemerkungen aufgenommen, denn dadurch wirkte es sehr authentisch. Und das will man ja beim Filmen erreichen – dass die Leute die Kamera vergessen.

Wie war die Solidarität in der Bevölkerung?

Das ist ein sehr schönes Kapitel. Man sagt ja immer, dass die DDR-Bürger aufgrund der Mangelwirtschaft solidarischer untereinander waren. Wir haben aber so viel Archivmaterial von Alt-Bundesbürgern gefunden, die zum Beispiel mit ihren Schlitten losgezogen sind und fürs ganze Dorf Brot und Speck geholt haben. Oder Leuten, die ihre Nachbarn aufnahmen, weil sie noch einen Ofen hatten und die Nachbarn nicht. Es gibt auch Geschichten von Leuten, die in Zügen eingeschlossen waren. Jemand hatte einen Stollen, ein anderer eine Flasche Schnaps, das haben die Leute natürlich geteilt. Und irgendeiner hatte dann noch einen Besteckkasten geschenkt bekommen, so dass sie sogar ein Messer hatten, um den Stollen aufzuschneiden. Also diese Solidarität war hüben wie drüben extrem. Jeder hat jedem geholfen.

Wie ging man in der BRD mit der Katastrophe um?

Natürlich hat das Wetter nicht an der deutsch-deutschen Grenze Halt gemacht und auch in der Bundesrepublik gab es einiges Chaos. In der Bundesrepublik war das große Problem, dass der Winter dort normalerweise immer aus den Alpen kam. Und in Bayern hat man genug Schneefräsen, Bergetechnik und auch die Bevölkerung ist auf den Winter eingestellt. Aber der Katastrophenwinter 1978/79 kam vom Norden, und das war das Überraschende. In Schleswig-Holstein gab es nie solche Winter, deshalb hatten die landwirtschaftlichen Betriebe kaum Notstromaggregate und mussten deshalb sehr hohe Verluste verbuchen. Auch die Katastrophenhilfe im Norden war nicht darauf vorbereitet. Man hatte in Schleswig-Holstein keine Bergetechnik, und es hat natürlich drei bis vier Tage gedauert, bis die Schneefräsen aus Bayern kamen.

Wie haben Sie die damalige DDR-Regierung im Film berücksichtigt?

Wir haben einen ehemaligen stellvertretenden Energieminister interviewt, der heute 86 Jahre alt ist. Ich hatte ihm im Vorfeld sehr viel Material zur Vorbereitung gegeben, Unterlagen von damals, damit er sich in diese Zeit noch einmal hineinversetzen kann. Denn die Ressentiments der ehemaligen DDR-Funktionäre gegen die heutige Presse sind sehr groß. Ich bin aber für einen fairen Umgang. Ich sage ihnen sehr genau, in welchem Kontext ich sie behandeln werde und ich bespreche hinterher mit ihnen, was aus dem Interview genommen wird – ich zeige ihnen natürlich nicht den fertigen Film, denn wir legen großen Wert auf journalistische Unabhängigkeit.

Das Schöne daran war, dass Herr Mitzinger sich überzeugen ließ und im Interview dann etwas völlig Überraschendes passierte: Er hat noch einmal alles rekonstruiert, weil es ihm so wichtig war, ein genaues Bild zu zeichnen und auch seine Rolle in diesem System genauer zu beschreiben. Er sagte: "An dem Tag, wo die Wettermeldung kam und wo wir hätten reagieren müssen, bekam ich die Meldung und wusste, es kommt etwas richtig Großes. Ich habe aber nicht reagiert, weil die immer über mich gewitzelt haben, dass ich überreagiere." Und das ist so ehrlich, das ist selten, dass jemand bereit ist, nicht nur die DDR zu verteidigen, dass er nicht sagt, wir würden heute sowieso alles schlecht reden, sondern zugibt, er habe falsch entschieden.

Sie haben bereits 2003 einen Film zu dem Thema gemacht. Haben Sie bei der Recherche jetzt neue Fakten gefunden?

Ja. Es ging immer darum, wie viele Menschenleben diese Katastrophe gekostet hat. In der Bundesrepublik hat man ganz klar gesagt: 18 Menschen sind bei uns in diesem Winter gestorben, teilweise von Bergetechnik überrollt, teilweise im Iglu eingeschlafen (Kinder zum Beispiel) oder alte Leute, die in ihrem eingeschneiten Auto auf der Landstraße erfroren. Im Osten dagegen hat man in der "Aktuellen Kamera" nur ein einziges Mal drei Verkehrstote vermeldet. Wir haben nun einen Zeitzeugen gefunden, Udo Beßer, der ein Buch über den Einsatz der NVA im Katastrophenwinter 1978/79 geschrieben hat. Er hat die Zahl von 18 Toten recherchiert, die auf ähnliche Art und Weise wie in den alten Bundesländern ums Leben kamen, zum Beispiel im Auto erfroren sind. Es gibt dazu allerdings keine Stasiunterlagen. Im Bundesarchiv, wo wir uns durch mindestens fünf laufende Meter Akten zum Katastrophenwinter durchgekämpft haben, gibt es dazu keine Berichte. Wir haben uns trotzdem entschieden, diese Zahl im Film zu nennen, weil das wirklich ein neuer Fakt ist.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Sechs Tage Eiszeit - Der Katastrophenwinter 1978/79 | 16. Februar 2023 | 20:15 Uhr