Lexikon: Briefmarkenkunde Briefmarken sammeln in der DDR: Philatelist Wolfram Grallert im Interview

28. Oktober 2004, 22:04 Uhr

Der Leipziger Philatelist Wolfram Grallert galt als einer der wichtigsten Briefmarken-Experten der DDR. Er konnte sein Hobby zum Beruf machen und wurde Mitglied des Zentralvorstandes des Philatelistenverbandes im Kulturbund der DDR, Auktionator in Leipzig und Briefmarkenprüfer bei der HO. Er hat an vielen internationalen Ausstellungen teilgenommen.

MDR: Herr Grallert, wie ist bei Ihnen die Sammelleidenschaft entstanden?

Wolfram Grallert: Ich habe mit zehn Jahren angefangen, mich ernsthaft mit Briefmarken zu befassen. Eine meiner ersten Tätigkeiten war, auf Geheiß meines Vaters Briefmarken von Briefen abzuweichen. Ich habe für 100 Stück zehn Pfennig bekommen. Wir hatten damals ein Aquarium, das zeitweise nicht genutzt wurde, so dass ich die Marken gleich in größeren Mengen im Aquarium eingeweicht und auf großen Löschblättern getrocknet habe. Aber davon abgesehen, hatte ich auch ein echtes Interesse daran. Meine erste Erwerbung war der Wohlfahrtssatz "Trachten" von 1935. Das war der Grundstock meiner Sammlung.

Dieser Grundstock muss der Beginn einer großen Liebe gewesen sein, denn Sie wurden einer der wichtigsten Philatelisten der DDR. Wenn jemand ein Gutachten benötigte, ist er zu Ihnen gekommen. Was genau war Ihre Aufgabe?

Briefmarken stellen einen gewissen materiellen Wert dar. Deshalb muss hin und wieder der aktuelle Wert von Marken oder ganzen Sammlungen eingeschätzt werden. Das war etwa notwendig bei Erbschaften, in Steuerangelegenheiten, bei Zollvergehen. Ich war Leiter der Leipziger Briefmarkenauktion. Und da sind Leute zu mir gekommen, die geerbt hatten und nun wissen wollten, was das Zeug eigentlich wert war. Ich musste einschätzen, was man etwa erzielen konnte und welche Verwertungsmöglichkeiten bestanden.

In der DDR war ja die Nachfrage generell sehr groß, weil es sehr viele organisierte Philatelisten gab. Wie sind diese Leute denn an seltene Sammelobjekte herankommen?

Dass es in der DDR so viele organisierte Sammler gab, hatte drei Ursachen. Das waren die Freude an der Sache, die Möglichkeit, am Auslandstausch teilzunehmen und die Reglementierung des Bezugs von Briefmarken am Postschalter. Man brauchte einen Sammlerausweis, mit dem man in der Regel drei Sätze Briefmarken kaufen konnte. Leute, die für den Tausch mehr Marken brauchten, besorgten auch noch Sammlerausweise für ihre Frauen und Kinder, so dass der Philatelistenverband zum Teil überbesetzt war. Andere Möglichkeiten des Briefmarkenerwerbs waren natürlich der Tausch und der Kauf in den Fachgeschäften des staatlichen Handels, des Konsums und bei Privathändlern. Und dann gab es eben die Auktionen, die zudem den Reiz des Bietens hatten.

Wie wurde der Auslandstausch organisiert?

Das war im Grunde ganz einfach: Der Staat hatte das Außenhandelsmonopol. Jeder, der privat Außenhandel treiben wollte, musste sich beim Kulturbund registrieren lassen und dann konnte er für etwa 600 Mark Katalogwert pro Jahr tauschen. Die Versandtaschen waren fertig zu machen und beim so genannten Auslandstausch-Kontrollstellenleiter abzugeben. Der prüfte anhand eines Kontrollzettels den Inhalt, klebte eine Auslandstausch-Kontrollmarke auf den Brief und brachte ihn auf ein dafür vorgesehenes Postamt. Die aus dem Ausland kommenden Sendungen unterlagen eigentlich der Vorführungspflicht beim Zoll. Aber es war so geregelt, dass Sendungen, die eine Gegenkontrollmarke hatten, nicht kontrolliert werden mussten. Der Sammler hatte die Kontrollmarke auszuschneiden und dem Kontrollstellenleiter zu übergeben, der dann alles buchte und registrierte.

War es möglich, mehr zu machen, als erlaubt war, wenn man den Kontrollstellenleiter gut kannte?

Das wäre sicher drin gewesen, aber die Kontrollstellenleiter haben sich im Allgemeinen alle sehr korrekt verhalten. In den meisten Fällen wurde ja auch postfrisches oder gestempeltes DDR-Material verschickt. Da konnte man mit 600 Mark Katalogwert schon allerhand anfangen. Die Marken der DDR kosteten pro Jahr am Schalter zusammen etwa 35 Mark, der Katalogwert lag bei etwa 60 Mark. Und außerdem zählte nur der Inhalt von Auslandstauschbriefen. Wenn jemand gestempeltes Material tauschen wollte, konnte man die Marken auch einfach auf den Brief kleben und ganz normal verschicken. Das fiel dann unter Privatpost.

War das Hobby dann bei manchen vielleicht so eine Art Alibi, um Kontakte in den Westen zu bekommen?

Wenn wahre Philatelisten aneinander geraten, ergeben sich zwangsläufig auch persönliche Kontakte. Ich habe ein Lexikon der Philatelie geschrieben, das auch im Westen verkauft wurde. So sind viele Leute über den Verlag an meine Adresse gekommen. Im Laufe der Zeit hat sich mit vier, fünf Westdeutschen Philatelisten ein reger Schriftwechsel entwickelt. Als ich Rentner wurde und meine ersten Westreisen antrat, waren das meine Anlaufstationen. So halfen die Briefmarken und die Fachliteratur, menschliche Verbindungen zu knüpfen.

War die zentrale Organisation des Vereinswesens durch den Kulturbund nicht eher hinderlich für die Philatelisten?

Das hatte zwei Seiten. Einmal gab es die starke Abhängigkeit vom Kulturbund, die für uns in mancher Beziehung ein Nachteil war. So mussten alle Beschlüsse des Verbandes natürlich vom Kulturbund abgesegnet werden. Aber wir waren auf der anderen Seite einer der größten Verbände innerhalb des Kulturbundes mit fast 70.000 Mitgliedern und hatten deshalb ein gutes Wörtchen mitzureden.

Haben die 70.000 Mitglieder im Philatelistenverband etwas mit der so genannten Nischengesellschaft DDR zu tun?

Wir hatten ein anderes Verständnis von sinnvoller Freizeitgestaltung. Ich bin seit Februar 1946, also von Anfang an, dabei. 1949 wurde der Kulturbund gestärkt, alle Volkskunstgruppen und ähnliche Einrichtungen mussten sich unter dessen Dach versammeln. Wir haben anfangs noch unsere eigenen Kohlen mitgebracht, um die Räume zu heizen, in denen wir zum Beispiel Gemäldeausstellungen veranstalteten. Das war keine Frage der Nischengesellschaft. Ich denke, die meisten Menschen hatten wirklich mehr Interessen als nur Bier und Fernsehen. In Leipzig hatte der Kulturbund etwa 35 verschiedene Interessengemeinschaften. Da konnte jeder nach seiner Facon selig werden. Wenn wir Briefmarkenausstellungen gemacht haben, hatten wir immer genügend Helfer und konnten deshalb auch immer das benötigte Material irgendwie besorgen, etwa Ausstellungsrahmen und auch Lastwagen zum Transport. Die Leute hatten Spaß daran und wollten mitmachen. Natürlich auch deshalb, weil aktive Mitglieder ein größeres Kontingent für den Auslandstausch erhielten.

Konnte denn zu DDR-Zeiten eine Briefmarkensammlung mitunter andere Versorgungsengpässe wettmachen?

Tatsache ist, dass in der DDR genügend Geld da war. Die Leute konnten nur nicht gleich das kaufen, was sie gerne gehabt hätten. So war ein gewisser Geldüberhang da, der von vielen eben in Briefmarken angelegt wurde. Die Enttäuschung ist heute oft groß, weil man aufgrund des zusammengebrochenen Marktes nicht mehr soviel mit den Marken anfangen kann. Es ist natürlich nicht so, dass die DDR-Marken nichts wert wären, die älteren Jahrgänge sind sehr gefragt. Wer sich aber zu sehr auf Neuheiten der DDR beschränkt hatte, der bekommt nicht mehr viel für die Sammlung. Man musste also damals auch mal ein paar Hunderter oder Tausender riskieren, um heute damit noch zum Zuge zu kommen. Außerdem habe ich damals für mein Geld sehr viel Leistung bekommen. Die Vereinsbeiträge waren sehr gering, auch die Beiträge für die Arbeitsgemeinschaften, von denen man auch Arbeitsmaterial bekam. Dort standen interessante Dinge drin. Ich konnte mich für 10 oder 15 Mark Gebühr im Jahr fachlich weiterbilden und hatte Kontakt zu vielen anderen Sammlern.

Hat es denn auch Fälle gegeben, dass man für ein paar Briefmarken auch mal Fliesen fürs Bad getauscht hat?

Das mag es gegeben haben. Zumindest war es realisierbar, für eine schöne Sammlung eine schöne Waschmaschine zu bekommen. Aber viel wichtiger war der Geldhandel. Wenn ich gute Briefmarken hatte, bekam ich dafür unter Sammlern auch gutes Geld und konnte davon andere Sachen kaufen. Es gab zum Beispiel überall in der DDR die so genannten Briefmarken-Tauschbörsen. Die wurden meist von den einzelnen Vereinen oder Kreisvorständen organisiert. Auch dort wurden die Marken fast ausschließlich mit Geld bezahlt. Das war auf Leitungsebene nicht gerne gesehen, sondern wurde als graue Handelszone skeptisch beäugt. Ich selbst neige aber dazu, jeden Tausch Marke gegen Marke als witzlos anzusehen. Wer soll und kann bewerten, ob so ein Tausch gerecht ist? Wenn ich für meine Marken einen bestimmten Preis verlange und es findet sich ein Käufer, der bereit ist, den Preis zu zahlen ... bitte.

Wie ist denn der Nachwuchs herangezogen worden?

Die Sache hing natürlich wesentlich davon ab, ob sich jemand darum kümmerte. Es gab viele Lehrer, die haben in den Schulen Arbeitsgemeinschaften "Junge Philatelisten" geleitet. Auch an den Pionierhäusern gab es diese Arbeitsgemeinschaften. Allein in Leipzig hatten wir wohl an die zehn bis zwölf. Dann gab es außerdem noch die Jugendarbeitsgemeinschaften. Das waren die Jungsammler, die schon einen eigenen Vorstand hatten und nur noch einen Betreuer vom Mutterverein. Dazu gab es noch Jugendwettbewerbe, angefangen bei den Kreisen über die Bezirke bis zur DDR-Wettbewerben. Die besten Jugendsammler der DDR wurden zu Auslandsausstellungen geschickt.

War das Sammeln von Briefen und Marken aus aller Welt auch so eine Art Ausdruck für Fernweh, weil man selbst nicht reisen konnte?

Das mag für manchen eine Rolle gespielt haben. Ich selbst habe durch mein Hobby und meinen Beruf eigentlich gar keine Zeit zum Reisen gehabt. Ich bin zwar in den Ländern herumgekommen, in denen es möglich war, aber auch nicht soviel, wie ich mir erhofft hatte. Immerhin hat man durch die Briefmarke eine eigene kleine Welt zu Hause. Man kann Geschichte und Geographie anhand dieses Hobbys wunderbar nachvollziehen. Wer sich philatelistisch für mehr interessiert als für den Katalog und die bunten Bildchen, der bekommt Einblicke in so viele Wissensbereiche. Und das Gute daran: Es war ideologisch nicht verbiegbar. Die Briefmarke sagt was aus. Und an einem Brief kann ich nichts ändern, der spricht für sich.

Das Interview wurde erstmals 1999 veröffentlicht.