Das Schicksal des Dichters Manfred Streubel Der Dichter Manfred Streubel im Porträt

29. November 2021, 10:38 Uhr

Jedes Kind in der DDR kannte das "Lied der jungen Naturforscher". Geschrieben wurde es 1950 von Manfred Streubel, der in den achtziger Jahren alle Hoffnungen verloren hatte.

1950 schrieb der 18-jährige Dichter Manfred Streubel ein Gedicht, das ihn berühmt machen sollte. "Das Lied der jungen Naturforscher": "Die Heimat hat sich schön gemacht, und Tau blitzt ihr im Haar. Die Wellen spiegeln ihre Pracht wie frohe Augen klar. Die Wiese blüht, die Tanne rauscht, sie tut geheimnisvoll. Frisch das Geheimnis abgelauscht, das uns beglücken soll." Generationen von Kindern in der DDR haben dieses Lied lernen und singen müssen. Es war eines der berühmtesten Pionierlieder überhaupt.

Das Gedicht am liebsten getilgt

Manfred Streubel war damals noch voller Hoffnung gewesen. Einige Jahre später hätte er dieses Gedicht allerdings am liebsten getilgt - er wollte damit nichts mehr zu tun haben. Aber entkommen konnte er ihm nicht, denn es waren vor allem diese Zeilen, die sich fortan mit seinem Namen verbanden. Zeilen, die die Gewissheit verkündeten, dass sich schon alles zum Besten richten wird: "Wir brechen in das Dunkel ein, verfolgen Ruf und Spur. Und werden wir erst wissend sein, fügt sich uns die Natur. Die Blume öffnet sich dem Licht, der Zukunft unser Herz. Die Heimat hebt ihr Angesicht und lächelt sonnenwärts."

Aufbruch nach Berlin

Manfred Streubel, der am 5. November 1932 in Leipzig geboren wurde, war 1950, gleich nach dem Abitur, voller Enthusiasmus und Optimismus nach Berlin gezogen, um "nahe am Puls der neuen Zeit zu sein". Er bekam eine Stelle bei der Pionierzeitschrift "Frösi" und schrieb Gedichte. "Es war ein ungeheurer Aufbruch damals. Dadurch, dass der Brecht da war, waren wir der Meinung, der hält die Hand über uns. Und wir waren rotzfrech, wir haben uns überall eingemischt", erinnert sich der Dichter Heinz Kahlau an jene Jahre. "Und Streubel war eigentlich ein Hagestolz. Wir nannten ihn den 'letzten Schiller'."

Großmäulige Gedichte

1956 erschien im Verlag Neues Leben der erste Gedichtband von Manfred Streubel - "Laut und leise". Der Band sorgte schnell für Aufsehen, die Kritiker waren begeistert. Die Gedichte sind verfasst im Duktus jener Jahre – stolz, auftrumpfend, zukunftsgläubig, zuweilen großmäulig: "Tod. Mein großer Widersacher, ich komme dir gründlich zuvor, verwandle in Wirkung meine vergängliche Masse. Vermache mich allem Lebendigen: liebe. Und lasse dir nur die Knochen, du Hund."

"Lasst alle Blumen blühen ..."

Karl-Marx-Stadt, Juli 1956. Kurt Barthel, Mitglied des ZK der SED und "Vorzeigedichter" der Partei, der sich KuBa nannte, ermunterte die jungen Dichter Heinz Kahlau, Manfred Bieler, Jens Gerlach und Manfred Streubel, auf dem "Kongress junger Künstler" auch ein paar Worte zu sagen. Die Dichter nahmen das Angebot freudig an und wendeten sich in ihren Reden vor allem gegen die Kulturpolitik der SED. Manfred Streubel sagte: "Die Dichter besingen heute lediglich die Zukunft, ohne sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Wir haben gute Begriffe inflationiert: Frieden, Freundschaft, Heimat bedeuten nichts mehr. Wir haben uns heiser geschrien und die Leute taub gemacht für die Wahrheit. Lassen wir endlich das hohle Pathos!"

Doch KuBa hatte die jungen Autoren mit seiner Aufforderung perfide in eine Falle gelockt. Er hatte nur herausfinden wollen, was sie tatsächlich denken. Nachdem Manfred Streubel auf seinen Platz zurückgegangen war, ging KuBa ans Rednerpult und schrie: "Wir machen es mit euch wie Mao Tse-tung: 'Lasst alle Blumen blühen, bis die Sensen geschliffen sind', ihr verfluchten Hunde."

Die Verhaftung täglich vor Augen

Manfred Streubel rechnete fortan täglich mit seiner Verhaftung. Der Gedanke, dass sein Leben zu Ende sein könnte, noch ehe es recht begonnen hatte, verband sich ihm mit der Erinnerung an seinen Vater, der 1945 verhaftet worden und in einem sowjetischen Gefangenenlager gestorben war. Aber es passierte nichts. Keine Festnahme, keine Verhöre. "Das war mein politisches Grunderlebnis", wird Streubel später sagen. "Diese Drohung, über uns blutjunge Wahrheitssucher verhängt, ein gestundetes Urteil, wurde niemals zurückgenommen."

Streubel schreibt für Kinder

1962 kündigte Manfred Streubel seine Stellung bei der "Frösi" und zog nach Dresden. Er lebte fortan als freier Schriftsteller. Und er schrieb viel für Kinder - Gedichte, Lieder, Theaterstücke und Hörspiele. Seine gesamte Hingabe aber galt seinem Sohn, der ihm nach der Scheidung von seiner Frau zugesprochen worden war und dem er etliche Gedichte widmete. Aber der halbwüchsige Sohn wird später seinen Vater einen "Spinner" nennen und sich schroff von ihm abwenden. Eine Trennung, die Manfred Streubel zeitlebens nicht verwinden wird.

Ärmliche Existenz

Nur wenige Kollegen wussten um die prekäre finanzielle Lage Streubels. Um die Miete zahlen zu können, war er oftmals gezwungen, Bücher und Bilder im Antiquariat zu versetzen. Einmal schenkte ihm der Schriftstellerverband eine Reise ins winterliche Moskau. Er musste ablehnen, weil er keinen warmen Mantel besaß. Streubel lebte zurückgezogen in Dresden-Loschwitz. Seit dem Erlebnis mit dem Polit-Dichter Kuba auf dem "Kongress junger Künstler" 1956 traute er niemandem mehr, überall witterte er Verrat. "Es gab keinen, den er nicht verdächtigt hätte, ihm Übles zu wollen", erinnert sich sein Freund, der Dichter Wulf Kirsten.

"Totale Entmoralisierung"

Nach dem Ende der DDR verstärkten sich Streubels Depressionen, die bereits in den achtziger Jahren eingesetzt hatten. Dazu kamen finanzielle Probleme: Kein Verlag wollte seine Gedichte mehr drucken und Streubel musste von Sozialhilfe leben. "Er war einmal als Schriftsteller in dem tiefen Glauben angetreten, eine Botschaft übermitteln zu können. Mitunter sah er sich in der Rolle des Verkünders", sagt Wulf Kirsten. "Später reduzierte er seine dichterische Aufgabe auf die Errichtung eines utopischen Reiches für Kinder. Aber beide Missionen sah er ab den achtziger Jahren gründlich misslungen."

Am 11. Juli 1992 wurde Manfred Streubel auf dem Dachboden seines Hauses tot aufgefunden - er hatte sich an einem Balken erhängt. Auf dem Schreibtisch lag sein aufgeschlagenes Tagebuch: "Dienst für Morgen. Das ist vorbei. Vermutlich gibt es gar kein Morgen mehr... Totale Entmoralisierung."

(Quelle: Absturz aus mittlerer Höhe. Der Dichter Manfred Streubel. Feature. MDR 2007)