Neonazis in der DDR Es waren Tausende: DDR sprach von Rowdys statt von Neonazis

25. Januar 2022, 16:15 Uhr

Ab 1988 erforschten Kriminologen und Soziologen im Staatsauftrag die Neonaziszene der DDR. Sie kamen zu erschreckenden Ergebnissen: 6.000 Neonazis gab es, davon 1.000 gewaltbereit. Die Öffentlichkeit erfuhr davon nichts. Stattdessen sprach die DDR-Regierung weiterhin von "Rowdys" und verharmloste so eine Szene, die zu brutalen Überfällen bereit war, wie sich bereits 1987 in der Zionskirche in Ostberlin zeigte.

Am Nachmittag des 17. Oktober 1987 versammeln sich ungefähr 100 Hooligans und Skinheads in der Berliner Kneipe "Sputnik" an der Greifswalder Straße, um einen Geburtstag zu feiern. Zur selben Zeit drängeln sich in der zwei Kilometer entfernten Zionskirche rund 2.000 Menschen bei einem Konzert zweier Bands aus Ost und West: "Element of Crime" und "Die Firma". Organisator der Veranstaltung: Silvio Meier, ein Hausbesetzer aus Ostberlin, der zu dieser Zeit in der kirchlichen Opposition ist. Die Volkspolizei ist vor Ort und die Staatssicherheit über das Ereignis informiert. Im "Sputnik" saufen sich die Neonazis derweil in Stimmung. Rund 30 bis 40 von ihnen brechen wenig später zur Zionskirche auf, um Konzertbesucher anzugreifen. Es ist 22 Uhr, gerade hat die Punkband "Element of Crime" das letzte Lied gespielt. Die Neonazis stürmen das Gotteshaus und brüllen: "Sieg Heil!", "Juden raus aus deutschen Kirchen" und "Kommunistenschweine" und verletzen mehrere Konzertbesucher beim Überfall.

Die Volkspolizei lässt die Neonazis gewähren. Jakob Ilja, der Gitarrist der Band, erinnerte sich später: "Da kamen einfach ein paar Skins auf eine so große Veranstaltung und schlugen drauf los. Das war angsteinflößend."

Stasi diktiert Ermittlungen

Schon tags darauf – am 18. Oktober 1987 – berichteten der RIAS und andere Westmedien über den Überfall und, dass die Polizei dabei untätig geblieben war. Die DDR geriet unter Zugzwang, die Behörden mussten mit der Untersuchung des Vorfalls beginnen.

Die Vorgehensweise wurde von der Stasi diktiert. Auf einer Liste mit 17 Punkten wurde der Ablauf genau festgehalten: Gegen einen Teil der Neonazis gab es Ordnungsstrafverfahren und schriftliche Belehrungen. Fünf Beschuldigten wurde der Prozess gemacht vor geladener Öffentlichkeit. Schon vorher stand fest, sie sollten "Freiheitsstrafen mit Präventivcharakter" bekommen und verpflichtet werden, sich am Arbeitsplatz zu bewähren.

Ende November begann vor dem Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte die Verhandlung gegen vier Hauptangeklagte. Wenige Tage später – am 3. Dezember 1987 – verurteilte die Strafkammer Ronny B. und drei weitere junge Männer wegen Rowdytums und öffentlicher Herabwürdigung zu Haftstrafen zwischen einem und zwei Jahren. Die FDJ-Zeitung "Junge Welt" intervenierte und forderte ein höheres Strafmaß. Mit Hilfe von Egon Krenz holte sich der DDR-Generalstaatsanwalt bei DDR-Staatschef Erich Honecker die Genehmigung ein, höhere Strafen zu verhängen. Honecker war einverstanden. Vor 30 Jahren – am 22. Dezember 1987 – wurde Anführer Ronny B. zu vier Jahren Haft verurteilt.

Verharmlosung der Tatsachen

Offiziell galt der Faschismus in der DDR als ausgerottet, laut Eigendefinition verstand sich der sozialistische Staat als zutiefst antifaschistisch. Doch der Historiker Harry Waibel zeichnet in seiner neuen Studie "Die braune Saat. Antisemitismus und Neonazismus in der DDR" ein anderes Bild. Er wertete dafür Akten der Staatsicherheit und der Polizei aus und fand heraus, dass die Behörden allein im Jahr 1959 über 1.400 "Hetzlosungen und faschistische Schmierereien" registriert hatten. Und das war längst nicht alles.

In den 1960er-Jahren gab es neonazistische Gruppen, die sich unter anderem "Kampfbund nationalsozialistischer Erneuerer des großdeutschen Reiches" oder "Faschistische Lehrlingspartei" nannten. In den 1980er-Jahren traten in der DDR gewaltbereite Skinheads auf den Plan, die Hitlers Geburtstag feierten und Nonkonformisten, wie beispielsweise Punks, brutal zusammenschlugen. In Berlin waren sie unter anderem in Gruppen wie der "Lichtenberger Front" und der "NS-Kradstaffel Friedrichshain" organisiert.

Arbeitsgruppe liefert unerwünschte Ergebnisse

Der Überfall auf die Zionskirche offenbarte einmal mehr die Existenz von Neonazis in der DDR. Allerdings war das eine unbequeme Wahrheit, die die Behörden anders darstellen wollten. So lautete die offizielle Interpretation, dass "Rowdys mit faschistischem Vokabular" am Werk gewesen seien. Auch die Stasi reagierte. Es wurden Maßnahmen gegen "nationalistische und neofaschistische Äußerungen und Rowdyhandlungen Jugendlicher" eingeleitet sowie eine monatliche Berichterstattung darüber, ob es gelingt, die rechtsextremistischen Gruppierungen von Jugendlichen zurückzudrängen.

Das DDR-Innenministerium gründete eine "Arbeitsgruppe Skinhead" unter Leitung des Kriminalpolizisten Bernd Wagner. Der wusste, dass man es hier nicht mit einem flüchtigen Jugendphänomen zu tun hatte, sondern mit einem Prozess, der die Gesellschaft bedrohte. Wagners Truppe erfasste über 1.000 gewalttätige Neonazis, dazu 6.000 in der Szene organisierte Personen. Insgesamt bezifferte die Arbeitsgruppe das Milieu auf mehr als 15.000 Personen. Die Ergebnisse waren schockierend für die Staatsführung. Die AG Skinhead wurde deshalb aufgelöst. Man versuchte, das Problem der Neonazis ausschließlich mit strafrechtlichen Maßnahmen in den Griff zu bekommen.

Szene aus Ost und West vernetzt sich

Nach dem Mauerfall kamen auch die Aktivisten westdeutscher Rechtsparteien in den Osten und fanden eine aktive Neonaziszene vor. West- und ostdeutsche "Kameraden" konnten über Jahre hinweg feste Strukturen aufbauen. Silvio Meier, der Punk und Hausbesetzer, der 1987 das Konzert in der Zionskirche organisiert hatte, war nach der Wende eines ihrer ersten Opfer. Am 21. November 1992 wurde der 27-jährige Drucker, der gerade Vater geworden war, von Neonazis in Berlin erstochen.