Willi Sitte, 1971
Willi Sitte, 1971 Bildrechte: DRA

Willi Sitte "Ich war ein politischer Maler"

01. März 2011, 13:38 Uhr

20 Jahre lang galt Willi Sitte in der DDR als "Formalist", ehe seine steile Karriere begann. Der Volksmund machte sich indes seinen eignen Reim auf seine Bilder: "Lieber vom Leben gezeichnet, als von Sitte gemalt."

"Am liebsten würde ich in Italien leben. Ich wäre am besten immer in Italien geblieben", erzählte Willi Sitte 1994 dem Publizisten Günter Gaus. "Ich sehne mich nach den Menschen dort. Ich sehne mich nach der Landschaft und der unvergleichlichen, jahrhundertealten Kultur."

Anfang 1942 war der am 28. Februar 1921 in einem kommunistischen Elternhaus im böhmischen Kratzau geborene Willi Sitte als Soldat der Wehrmacht nach Italien gekommen. Er lernte schnell Italienisch und freundete sich mit den Einheimischen an. "Und da habe ich mitbekommen, dass die alle bei den Partisanen waren. Und da ich Chef der Post war, bekamen sie von mir viele Informationen." Als Sitte aufflog und wegen Hochverrats vor ein Militärgericht gestellt werden sollte, desertierte er und schloss sich den Partisanen an. Es war ein "Akt der Befreiung", erinnerte er sich später in dem Gespräch mit Gaus: "Ich hatte ein gutes Gewissen gehabt, nicht mehr zu denen zu gehören, die gemordet, geplündert und zerstört haben."

Als Künstler in Mailand

Auch nach dem Kriegsende blieb Sitte in Italien. Er arbeitete zunächst als Übersetzer in einem Gefangenenlager, später als Plakatmaler in Vicenza und Mailand. Und – er zeichnete: biblische Motive und Landschaften. 1946 konnte er in einer Galerie in Mailand zum ersten Mal seine Arbeiten einem größeren Publikum präsentieren. Die Ausstellung wurde ein großer Erfolg - binnen weniger Tage waren alle Arbeiten verkauft und Sitte bekam Angebote von Galerien in Genua und Triest. Der kaum 25-jährige deutsche Maler schien eine rasante Karriere in Italien vor sich zu haben. Doch dann ging er fort ...

Neuanfang in Halle (Saale)

"Ich wollte in Italien bleiben, aber meine Eltern schrieben mir, das ginge nicht, du musst zurückkommen." 1946 zog Sitte in seinen Geburtsort Kratzau, wenig später wurde die Familie jedoch aus dem Sudetengebiet umgesiedelt. "Und so bin ich in die sowjetische Besatzungszone geraten, wohin ich nie wollte", sagte er 1994. Sitte wollte nun wenigstens studieren. Doch seine Bewerbungen an den Hochschulen in Weimar und Dresden blieben erfolglos. "Junge, du kannst alles, du musst raus ins Leben", bedeuteten ihm sowohl die Malerin Lea Grundig als auch der spätere Star-Architekt Herbert Henselmann. Sitte zog Ende der 1940er-Jahre nach Halle. Dort gab es in jenen Jahren noch eine intakte und aufmüpfige Kunstszene und überdies hatten sich einstige "Antifa"-Leute aus Kratzau in der Saalestadt angesiedelt. 1949 bekam Sitte eine Anstellung als Zeichenlehrer an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein. Das monatliche Salär: 450 Mark.

Mit Nickelbrille und Lodenmantel

In Halle begannen Sittes langen Jahre der Entdeckungen: von den damals verfemten deutschen Expressionisten bis zu den Collagen George Braques. Er ließ sich - von Matisse beeinflusst – zu Guachen (Anm. besondere Maltechnik) verführen, orientierte sich an Fernand Légers Arbeiterbildern und fand seinen eigentlichen Meister: Pablo Picasso. Sitte, der damals mit Nickelbrille und Lodenmantel wie ein Jungintellektueller aus dem Bilderbuch wirkte, schrieb nebenher surrealistische Texte und illustrierte Majakowskis Satire "Die auf Sitzungen Versessenen" – und meinte natürlich: die Kulturfunktionäre.

Ausstellen durfte Sitte, der seit 1947 Mitglied der SED war, in jenen Jahren kaum etwas. Der Vorwurf der Kulturbürokraten der Einheitspartei lautete unter anderem "schädlicher Individualismus" und "Formalismus". Sitte aber focht das nicht an, ganz im Gegenteil: Er machte sich öffentlich über den Naturalismus in der sowjetischen Kunst lustig und forderte vom "großen Bruder" die Rückgabe deutscher Kunstwerke. Dafür setzte es dann allerdings ein Jahr Unterrichtsverbot und die Staatssicherheit begann, den Maler mit den gefährlichen kosmopolitischen Neigungen, der mit Wolf Biermann und Christa Wolf befreundet war, vorsichtshalber zu überwachen.

"Abgearbeitete, müde Gestalten"

Ans Fortgehen aber dachte der Kommunist Willi Sitte keinen Augenblick. Er hoffte, dass jene "Entgleisungen und Verzerrungen nur vorübergehend" seien und war davon überzeugt, dass "der Weg" im Großen und Ganzen "richtig" sei. "20 Jahre hatte ich unter dem Stalinismus wirklich gelitten", stellte er 2001 fest, "aber ich hatte wenigstens eine politische Heimat …"

Anfang der 1960er-Jahre malte Sitte nach Besuchen der Leuna-Werke in Schkopau – noch ganz im Stil der klassischen Moderne und als Reaktion auf den sogenannten "Bitterfelder Weg" - erste Entwürfe zu einem Arbeiter-Tryptichon. Doch die SED erkannte in Sittes Arbeitern nicht jene "Helden der Arbeit", die sie unentwegt forderte. "Das waren abgearbeitete, müde Gestalten, die gierig Bier tranken und Zigaretten rauchten. Menschen wie sie in der Wirklichkeit erlebbar waren", konstatierte der Hallenser Kunsthistoriker Dr. Wolfgang Hütt. Durch die Erfahrung im Umgang mit dieser Arbeitswelt, so Hütt, "formte sich allmählich Sittes neuer Stil".

Sozialistischer Barock

In den folgenden Jahren brach Sitte so radikal wie im Grunde unvermittelt mit seinem bis dahin praktizierten und ausgesprochen modernen "kubistischen Realismus", und entwickelte stattdessen eine vor allem an den deutschen Impressionisten Lovis Corinth angelehnte Malerei – den später so charakteristischen Sitte-Stil, auch "sozialistischer Barock" genannt: Üppige, pralle und zumeist nackte Leiber in der sozialistischen Arbeits- und Lebenswelt. Sitte begründete den Stilbruch mit ausschließlich malerischen Erwägungen: Im Umgang mit der Farbe habe er damals eine gewisse Virtuosität erreicht gehabt, so dass er die Konturen zurückdrängen und zunehmend entfesselt die Farben nebeneinander aufzutragen vermochte. Sitte konnte sich jedenfalls fortan mit den Doktrinen des sozialistischen Realismus versöhnen, ohne sein Temperament in die Schranken weisen zu müssen. Seine Gemälde fanden Eingang in alle bedeutenden Museen der DDR, doch provozierten sie gelegentlich immer noch, wie etwa der "Rocksänger" 1982, die Kulturfunktionäre der SED. Der Volksmund hatte sich auf seine Bilder indes seinen eignen Reim gemacht: "Lieber vom Leben gezeichnet, als von Sitte gemalt."

Der Humus für seine Bilder fehlte nach 1989

Als die DDR - die für Sitte nicht nur politische Heimat, sondern stets auch der Humus seiner künstlerischen Vitalität gewesen war - verschwand, wurden Sittes Bilder in die Depots geräumt und er selbst galt hinfort als "Staatskünstler" und "Kraft durch Freude"-Maler. Große Ausstellungen gab es nun nicht mehr. Ein letzter Versuch endete als beispielloses Fiasko: Im "Germanischen Nationalmuseum" in Nürnberg sollte 2001, zu Sittes 80. Geburtstag, eine umfassende Werkschau präsentiert werden. Doch die Ausstellung wurde verhindert. Der Vorwurf: Hier würde ein unkritischer Staatskünstler geehrt.

Willi Sitte zog daraufhin seine Zusage, private Unterlagen und künstlerische Werke zu überlassen, zurück, und suchte für sein Lebenswerk einen neuen Nachlassverwalter. In Merseburg wurde 2006 schließlich die "Willi-Sitte-Galerie" eröffnet, zu deren Bestand etwa 300 Gemälde und über 1.000 Zeichnungen gehören. Auf einem Bild meint man Sitte selbst zu entdecken: Ein Mann hockt grübelnd über einem weißen Blatt. Das Bild heißt: "Der denkende Mensch". Doch es ist nur ein Ausschnitt aus einem demontierten Wandbild, das einst an der Stadthalle in Suhl hing. Damals hieß es noch: "Kampf und Sieg der Arbeiterklasse".

Quellen

  • Günter Gaus: Zur Person, edition ost 1999
  • Marina Farschid: Der Maler Willi Sitte im Porträt, MDR-Hörfunkfeature 2001

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 17. Februar 2021 | 22:00 Uhr