Vom Feind zum KameradWieviel NVA steckt noch in der Bundeswehr?
Mehr als 30 Jahre lang standen sie sich als Feinde gegenüber: NVA und Bundeswehr. Am 3. Oktober 1990 waren sie plötzlich eins. Den Klassenfeind gab es über Nacht nicht mehr. Wieviel NVA steckt heute noch in der Bundeswehr? Ein Gespräch mit Oberstleutnant Dr. Rudolf J. Schlaffer über die Herausforderungen damals und die Bundeswehr heute.
Inhalt des Artikels:
- Wie hat sich die Fusion von NVA und Bundeswehr konkret vollzogen?
- Von mehr als 50.000 NVA-Soldaten schafften es nur 18.000 in die Bundeswehr. Woran liegt das?
- Hätte man damals mehr NVA-Soldaten übernehmen sollen?
- Inwiefern gibt es im Jahr 2017 noch Überbleibsel der NVA in der Bundeswehr?
- Nach einer Studie der Uni Leipzig hatten nur zwei von 200 Generälen 2016 einen "ostdeutschen Hintergrund". Im Gegensatz dazu sind Ostdeutsche in den niedrigeren Rängen überproportional vertreten. Woran liegt das genau?
Wie hat sich die Fusion von NVA und Bundeswehr konkret vollzogen?
Man muss zuallererst festhalten, dass es keine Zusammenlegung war. Sondern: Die NVA wurde aufgelöst und die Bundeswehr existierte uneingeschränkt weiter. Die politischen Systeme waren ja grundsätzlich verschieden. Die Überlegung war also schon im Vorhinein: Wenn, dann muss es eine Übernahme des Einen durch den Anderen sein. Außerdem war klar, dass gewisse politische Kader aus der DDR, wie Stasi-Angehörige oder Mitarbeiter der Auslandsaufklärung, nicht übernommen werden können. Dafür jedoch Angehörige der NVA aus den Truppenverbänden und Grundwehrdienstleistende.
Teile der Infrastruktur und Soldaten hat man dann ja auch in die Bundeswehr integriert. Und natürlich war die Nachwende-Zeit für die NVA-Soldaten eine ungewisse Zeit. Sie haben ja ihre berufliche Zukunft innerhalb kürzester Zeit verloren. Und vorher dachten sie noch, dass ein "Zwei-Armeen-Modell" denkbar wäre.
Von mehr als 50.000 NVA-Soldaten schafften es nur 18.000 in die Bundeswehr. Woran liegt das?
Es hatten sich ja nicht so viele beworben. Viele haben ganz klar gesagt, dass sie nicht in den Streitkräften des ehemaligen Klassenfeindes dienen wollten. Ein anderer Teil wusste wahrscheinlich auch, dass sie wegen ihrer Geheimdiensttätigkeit auffliegen würden. Und manche mussten auch deshalb später noch entlassen werden.
Übernahme von NVA-Soldaten in die Bundeswehr1989 verfügte die NVA noch über mehr als 170.000 Soldaten. Am 3. Oktober 1990 wurden etwa 90.000 ehemalige NVA-Soldaten in die Bundeswehr vorläufig übernommen. Davon waren etwa 50.000 Freiwillige und Berufssoldaten. Diese konnten einen Antrag stellen, für den weiteren Dienst in der Bundeswehr "weiterverwendet" zu werden. Diese "Weiterverwender" waren dann zwei Jahre zur Prüfung in der Bundeswehr. Von diesen Antragsstellern wurden im Januar 1991 mehr als 18.000 als Soldaten auf Zeit für zwei Jahre übernommen. Bis Ende 1998 verringerte sich die Zahl der ehemaligen NVA-Angehörigen auf etwa 9.300 Soldaten.
Hätte man damals mehr NVA-Soldaten übernehmen sollen?
Das ist eine hypothetische Frage. Wenn man sich anschaut, dass die Bundeswehr auf 370.000 Soldaten verkleinert werden sollte und man circa 100.000 Grundwehrdienstleistende abzieht, dann ist die Zahl der ehemaligen NVA-Soldaten schon akzeptabel.
Inwiefern gibt es im Jahr 2017 noch Überbleibsel der NVA in der Bundeswehr?
Strukturelle Überbleibsel gibt es keine mehr. Die Bundeswehr blieb ja bestehen. Man hat nur ehemaliges Personal und Material übernommen. Teilweise musste das Material dann auch noch ausgesondert werden – auch wenn es sehr gutes Material war. Es war einfach nicht NATO-kompatibel wie beispielsweise das Jagdflugzeug vom Typ MiG-29, das zum Teil nicht über die geforderte Funk- und Radarerkennungsausstattung verfügte. Außerdem passten zum Beispiel bei den Panzern die verschiedenen Waffensysteme nicht zusammen.
Heute steckt, bis auf wenige ehemalige NVA-Soldaten und Exponate im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden, nichts mehr aus der NVA in der Bundeswehr.
Das Material wurde ausgesondert und ein Großteil des ehemaligen Personals ist in Ruhestand verabschiedet worden. Die Liegenschaften und Kasernen gibt es natürlich noch, wie beispielsweise am Standort in Hagenow. Jedoch gibt es kein Gedankengut aus der NVA mehr, das heute noch in der Bundeswehr zu finden wäre – nach über 25 Jahren ist das auch kein Wunder.
Nach einer Studie der Uni Leipzig hatten nur zwei von 200 Generälen 2016 einen "ostdeutschen Hintergrund". Im Gegensatz dazu sind Ostdeutsche in den niedrigeren Rängen überproportional vertreten. Woran liegt das genau?
Das hat auch mit der Altersschichtung zu tun. Generäle der NVA wurden ja nicht übernommen. Ein Generalstabsoffizier der NVA wurde nicht gleich auch Generalstabsoffizier in der Bundeswehr. Und um in den niedrigsten Generalsrang befördert werden zu können, musste man schon Ende 40 sein.
Zur Person:Rudolf J. Schlaffer ist Oberstleutnant bei der Bundeswehr und Militärhistoriker. 1991 trat er in die Bundeswehr ein und arbeitete unter anderem am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Dort war er Projektleiter für "Strategie und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland" und bis 2015 Projektbereichsleiter "Einsatzgeschichte". Zudem lehrt er an der Universität Potsdam. 2006 wurde er mit dem Thema "Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages" an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg promoviert. Er legte zahlreiche Veröffentlichungen zur Militärgeschichte und Sicherheitspolitik vor.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV:MDR SACHSENSPIEGEL | 16.03.2017 | 19:00 Uhr