Interview über Auswirkungen politischer Repressionen in der DDR Der lange Schatten der Verfolgung auf Opfer und deren Kinder

25. Februar 2023, 10:20 Uhr

Politisch motivierte Verfolgung führt vielfach zur Traumatisierung und damit zu langandauernder körperlicher und psychischer Beeinträchtigung bei den Betroffenen. Wie gehen die Opfer und ihre Nachfahren mit den erlittenen Traumata um und welche sind das? Werden tiefgreifende Erfahrungen tatsächlich vererbt? Drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR sind die Ausmaße politischer Verfolgung in Ostdeutschland zwischen 1945 und 1989 noch immer unzureichend erforscht. MDR GESCHICHTE hat darüber mit Professor Stefan Röpke, der den Forschungsbereich Traumafolgestörungen an der Berliner Charité leitet, gesprochen.

Ziel des Forschungsverbundes "Landschaften der Verfolgung" ist es, diesen unbefriedigenden Zustand der unzureichenden Erforschung von Ausmaßen politischer Verfolgung und Inhaftierung in Ostdeutschland zwischen 1945 und 1989 zu ändern. Im Mittelpunkt steht dabei die Schaffung einer Datenbank, in der möglichst alle Opfer politischer Verfolgung in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR verzeichnet werden sollen. Um dieses anspruchsvolle Vorhaben operationalisierbar zu machen, wird es auf Personen beschränkt, die inhaftiert waren. Dabei geht es um Langzeitfolgen der Repression, die bis in die gesellschaftliche Gegenwart des wiedervereinigten Deutschlands hineinreichen.

Professor Stefan Röpke erklärt die aktuelle Studie: "Wir haben jetzt Erwachsene untersucht. Also wer ins Gefängnis kam, musste mindestens 18 Jahre gewesen sein. Im weiteren Verlauf des Projekts wollen wir Kinder und Jugendliche untersuchen, die in Jugendwerkhöfen und Spezialkinderheimen waren. Was macht das mit der Gesundheit, wenn man schon sehr früh in solche Strukturen gekommen ist? Die Frage wollen wir beantworten."

Was war die spannendste oder auch überraschendste Erkenntnis aus der Studie?

Im positiven Sinne sicherlich, dass es schon einen Großteil der Betroffenen gibt, die offiziell rehabilitiert sind. Das sind über 80 Prozent derer, die an unserer Studie teilgenommen haben. Und jetzt kommt die negative Überraschung: Etwa 70 Prozent von allen, die mit einer finanziellen Entschädigung sozusagen eine "Wiedergutmachung" erfahren haben, schätzen diese als ungenügend ein. Es gibt also einen sehr großen Teil, der - obwohl formal rehabilitiert - der Meinung ist, das eine Wiedergutmachung in nicht ausreichendem Maße stattgefunden hat. Da muss man im weiteren Verlauf der Studie auch nochmal schauen: Worum geht es da genau? Ist das monetär gemeint? Oder haben die Betroffenen eher das Gefühl, dass sie dafür nicht angemessen gewürdigt und entschädigt worden sind für das, was ihnen widerfahren ist.

Außerdem gab es körperliche Einschränkungen zu sehen, wobei wir die genauen Auswirkungen noch nicht haben. Bei den politischen Gefangenen liegt zum Beispiel doch eine hohe Rate an körperlichen Erkrankung vor - an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Blutzucker, aber auch Krebserkrankungen. Da finden wir erst mal jetzt auf den ersten Blick Werte, die wir in der Allgemeinbevölkerung so nicht erwarten würden. Das muss man vorsichtig behandeln, jedoch sieht man, dass nicht nur die Psyche belastet worden ist, sondern auch die körperliche Gesundheit. Man muss natürlich auch immer sagen, dass das logischerweise nicht alle betrifft. Nicht alle, die wir untersucht haben, sind jetzt krank. Es gibt auch resiliente Menschen, die da wenig oder gar keine psychischen oder körperlichen Folgen fortgetragen tragen haben. Dennoch gibt es deutlich mehr Fälle als in der Durchschnittsbevölkerung.

Prof. Stefan Röpke, Charité Berlin
Prof. Stefan Röpke leitet an der Berliner Charité den Forschungsbereich Traumafolgestörungen. Bildrechte: Prof. Stefan Röpke, Charité Berlin

Welche psychischen Folgen melden die Opfer und deren Nachkommen?

Wir sehen erst einmal, dass sehr viele überhaupt eine psychische Erkrankung haben. Knapp 80 Prozent - also doch der größte Teil der Betroffenen - haben irgendeine psychische Erkrankung. Dabei müssen wir uns die Frage stellen, welche Diagnosen bezieht man mit ein? Ist jetzt Zigarettenabhängigkeit eine Diagnose? Deshalb muss man immer genau gucken. Zum Beispiel stehen ganz oben in der Liste Angsterkrankungen. Das ist häufig da. In der deutschen Gesamtbevölkerung sind etwa 15 Prozent von Angsterkrankung betroffen, die Teilnehmer unserer Studie etwa zu 30 Prozent. Man kann also von einer doppelten Rate sprechen. Und das ist mehr, als man erwarten würde. Auch Depressionen treten gehäuft auf.

Auch bei den Nachkommen sehen wir eine Häufung. Aber natürlich die Zahlen sind dann, wenn man sie sich einzeln anguckt, geringer.

Welche gesundheitlichen Folgen melden die Opfer und deren Nachkommen?

Da geht es vor allem um körperliche Beschwerden, ohne dass man einen Grund findet. Es geht also um sogenannte somatoforme Störungen - körperliche Symptome, wie Schmerzen, Durchfälle, Atemprobleme, ohne dass wirklich eine Krankheit gefunden wird, die dahinter steckt. Außerdem gibt es posttraumatische Belastungsstörungen, wo man wirklich Alpträume hat, immer wieder an diese Ereignisse erinnert wird. Das wird bei etwa einem Viertel gefunden. Und in der allgemeinen Bevölkerung würden wir das bei etwa drei Prozent erwarten. Auf die Lebenszeit berechnet kommt z.B. auch Alkoholmissbrauch häufiger vor.

Bei den Nachkommen sehen wir auch eine neue Häufung. Allerdings hätten wir erwartet, dass die Nachkommen noch mehr belastet sind. Wir haben also ähnliche Muster, aber in geringerer Ausprägung.

Vererbt sich das Trauma der politischen Verfolgung – welche genetischen Mechanismen sind da am Werk? Oder sind die Probleme durch die Atmosphäre im Elternhaus auf die nächste Generation übertragen worden, aber keine genetische Vererbung?

Es gibt sogenannte epigenetische Mechanismen. Genetisch heißt ja, dass der genetische Code sich ändert. Der ändert sich definitiv nicht durch solche Ereignisse. Aber wir haben andere Mechanismen, die entscheiden, welche Teile des genetischen Codes wann abgelesen werden. Das sind epigenetische Mechanismen, die sich verändern.

Grafik DNA Strang 2 min
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Diese Veränderung kann dann wieder in der nächsten Generation rückgängig gemacht werden oder ist zu behandeln mit Medikamenten und Therapie. Insofern verliert sich das dann wahrscheinlich so langsam über die Generation. Das ist jetzt nicht dauerhaft da drin. Wahrscheinlich ist es so, dass die erste Generation mehr betroffen wird, die danach dann jeweils weniger. Dann kommen natürlich noch Umwelt-Faktoren hinzu, wenn zum Beispiel das Kind gerade geboren wurde und die Eltern ins Gefängnis kommen, das Kind in eine neue Umgebung, möglicherweise in ein Heim, kommt. Auch ein plötzlich massiver soziale Abstieg, der womöglich durch so eine Haft entstanden ist, dass man plötzlich einfach in anderen sozialen Verhältnissen lebt, als man vorher gelebt hat, spielt eine Rolle - oder auch natürlich der Stress. Wir haben die Krankheiten gesehen, wenn Mutter ständig depressiv ist, Vater Alkohol trinkt. Das führt natürlich zu einem ganz anderen Aufwachsen, als wenn das nicht der Fall ist.

Es gab ja auch die zwei Wege aus der Haft; der eine Weg war in die Bundesrepublik der Freikauf. Allerdings hat das nur einen kleineren Teil der Gefangenen betroffen, der größere Teil ist in die DDR zurückgegangen. Ich glaube, was da relevant war, ist einerseits dieses Redeverbot, dass man darüber nicht sprechen durfte, wo man alles sozusagen irgendwie mit sich getragen hat. Das ist auch nicht gesundheitsfördernd. Und zum zweiten kam dann eben diese soziale Ächtung und der soziale Ausschluss, der dann ja die ganze Familie betroffen hat, dazu. Diese Faktoren haben massiv Stress ins Familiensystem reingebracht. Möglicherweise ist die Arbeitsstelle weg oder man bekommt irgendeine Arbeit zugewiesen, die man gar nicht machen möchte. Die Summe es ist, glaube ich, dann hat jeder natürlich eigene Möglichkeiten, damit umzugehen, nach dem Motto Augen zu und weitermachen und bloß nicht drüber reden. Und irgendwie geht es. Und dann kann der eine besser, der andere schlechter damit umgehen. Viele der Betroffenen sind halt wirklich auch nicht krank. Das muss man auch sagen: Wenn die Hälfte was hat, hat die andere Hälfte natürlich nichts. Man muss also nicht zwingend psychische Probleme haben oder körperlich krank sein. Die politische Haft erhöht aber eben die Wahrscheinlichkeit bei den Betroffenen und auch bei den Kindern massiv.

Wie wurde die Studie durchgeführt? Ist sie ausreichend repräsentativ?

Wir wollen unsere Studie mit den großen Bevölkerungsuntersuchungen - zum Beispiel vom Robert Koch-Institut - vergleichen. So wollen wir möglichst präzise Vergleiche anstellen können. Da geht es um gleiches Geburtsjahr, gleiches Geschlecht, vielleicht kommt man aus der gleichen Region usw. Dass man also guckt, wie ist es einem Menschen in Bezug auf die Gesundheit ergangen.

Wir würden natürlich gerne noch erweitern. Also, zum einen würde wir gerne noch gucken, was ist, wenn die Menschen in jüngeren Jahren traumatisiert waren. An der jetzigen Studie haben wahrscheinlich etwa 400 Menschen teilgenommen. 100 Menschen sind immerhin noch auf der Warteliste. Insgesamt können wir also auf 500 Teilnehmer kommen. Das ist schon gut, finde ich. Bei bisherigen Studien waren immer etwa 20 bis 40 Leute dabei gewesen. Es gibt auch einzelne andere Untersuchungen aus früherer Zeit, die andere methodische Einschränkungen hatten. Im Vergleich dazu liefern unsere Untersuchungen eine sehr große und eine sehr genaue charakterisierte Stichprobe. Die großen, die wichtigsten Ergebnisse kommen noch.

Dadurch, dass es ein Verbundprojekt ist, haben wir auch nicht nur unsere Fragen, sondern auch die Fragen der Verbundpartner mit aufgenommen, also auch von den Juristen und von den Historikern.

Was ist die praktische Schlussfolgerung daraus? Warum brauchen wir die Studie?

Wir brauchen das für die sogenannte Beweislastumkehr. Ich bin ja vor allem Arzt und Wissenschaftler. Insofern liefern wir die Daten, die sich Entscheidungsträger anschauen müssen. Es kann natürlich sein, wenn man ein sehr hohe Häufigkeit sieht von Erkrankungen nach der Haft und ein Betroffener hat diese Erkrankung heute und kann die Haft nachweisen, dass er oder sie nicht wieder nachweisen muss, dass die Erkrankung durch die Haft kommt. Das wäre jetzt die Umkehr der Beweislast. Auch wenn die Bundesrepublik schon viel unternommen hat für Hilfestellungen und Unterstützung und Wiedergutmachung, ist es doch nicht genug. So möchte ich das zusammenfassen. Das wissen andere besser als ich. Aber ich zumindest kann so eine Einschätzung aus der Summe der Ergebnisse geben. Und da ist die Einschätzung, dass die Betroffenen nicht ausreichend entschädigt sind, auch wenn sie offiziell rehabilitiert sind, sich aber nicht ausreichend entschädigt fühlen.

Letztlich ist es eine politische Entscheidung und keine wissenschaftliche Entscheidung. Aber viele der Betroffenen leben heute noch. Viele von ihnen haben nicht ausreichend Unterstützung bekommen und unsere Daten können dazu beitragen, "ein bisschen mehr Gerechtigkeit in der Sache zu schaffen", bei denen, die heute noch leben. Man muss versuchen, den Menschen für das Unrecht, was da geschehen ist, zumindest irgendeine Wiedergutmachung zu liefern. Auch gab es verschiedene Phasen davon, wie mit Häftlingen umgegangen wurde. Am Anfang war es sehr viel körperliche Gewalt, später wurde so gut wie keine körperliche Gewalt angewendet, sondern rein psychische Gewalt. Da gibt es Meinungen, die das als weniger schlimm ansehen. Meistens resultieren daraus jedoch deutliche Einschränkungen der Lebensqualität, der Lebensdauer und der Gesundheit. Da muss man aufklären. Es besteht gesellschaftliche Verantwortung diesen Menschen gegenüber.

Welchen Einfluss hat die politische Verfolgung in der DDR langfristig auf soziale Beziehungen – bis heute auf die gesamte Gesellschaft bezogen?

Also unsere Daten zeigen, dass auch die Nachkommen noch Spuren der Ereignisse in sich tragen und die Folgen davon noch erleben. Das zeigen diese Ergebnisse, auch unter der Einschränkung, noch nicht final ausgewertet zu haben. Aber mit hoher Wahrscheinlichkeit ist es so, dass auch die Nachkommen von denen, die vielleicht jetzt Depressionen haben oder einen Herzinfarkt erleiden, durch die Inhaftierung der Mutter oder des Vaters, auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für solche Erkrankungen gegeben ist. Auch, wenn die Leute sich dessen vielleicht gar nicht so bewusst sind, dass das schon mitschwingt in deren heutigen Leben.

Unser Gesprächspartner: Prof. Stefan Röpke

Prof. Stefan Röpke, Charité Berlin
Prof. Stefan Röpke Bildrechte: Prof. Stefan Röpke, Charité Berlin

Stefan Röpke ist seit 2016 Professor an der Charité in Berlin. Er leitet das Teilprojekt "Körperliche und psychische Folgen politischer Haft" der groß angelegten Studie "Landschaften der Verfolgung". Röpke studierte in Berlin und Paris Medizin. Nach Stationen als Assistenzarzt und Arbeitsgruppenleiter in Berlin, Montpellier und Paris ist er seit 2006 Oberarzt und Bereichsleiter, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité - Universitätsmedizin Berlin. Dort habilitierte er sich 2011 und ist seit 2016 Professor ebendort.

Forschungsverbund "Landschaften der Verfolgung"

"Landschaften der Verfolgung" heißt ein Forschungsprojekt, bei dem Historiker, Juristen, Psychologen und Ärzte untersuchen, wie Menschen in der DDR politisch verfolgt wurden und welche Folgen das für ihr Leben heute, das ihrer Nachkommen und für die gesamte Gesellschaft in der Gegenwart hat. Nach vier Jahren liegen 2023 neue, spannende Erkenntnisse vor, die bei einer Tagung im Februar 2023 vorgestellt wurden.

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