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Lenin-ZitatDekret über den Frieden: Ein Flugblatt und die Folgen

21. September 2009, 15:26 Uhr

Bernd Eisenfeld verteilte 1968 in Halle ein Flugblatt mit einem Lenin-Zitat. Das brachte ihm zweieinhalb Jahre Gefängnis ein, beginnend mit der U-Haft im "Roten Ochsen".

Von Lenin lernen, heißt siegen lernen

Sein "Verbrechen" war eine Tat der Zivilcourage, und dazu eine, gegen die der Staat eigentlich nichts hätte haben dürfen. Denn was sollte in der DDR dagegen sprechen, dass ein junger Mann ein Lenin-Zitat unters Volk bringt, indem er auf der Straße Zettel verteilt, in mühevoller Arbeit und mit Schreibmaschine und Durchschlagpapier vervielfältigt? Der Ökonom Bernd Eisenfeld hatte aus dem "Dekret über den Frieden" Lenins Begriffserklärung einer Annexion abgetippt. Aber die hatte es in sich – ließ sie sich doch ohne Mühe auf den Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrags in Prag beziehen.

Unter Annexion (…) fremder Territorien versteht die Regierung, im Einklang mit dem Rechtsbewusstsein (…), jede Angliederung einer kleinen oder schwachen Völkerschaft an einen großen oder mächtigen Staat, ohne das diese Völkerschaft ihr Einverständnis und ihren Wunsch unmissverständlich, klar und freiwillig zum Ausdruck gebracht hat. Wenn irgendeiner Nation mit Gewalt, (…) das recht vorenthalten wird, (…) in freier Abstimmung über die Formen ihrer staatlichen Existenz ohne den mindesten Zwang selbst zu entscheiden, so ist eine solche Angliederung eine Annexion, d.h. eine Eroberung und Vergewaltigung.

Wladimir Uljanow Lenin | Dekret über den Frieden, 1917

Untersuchungshaft im "Roten Ochsen"

Eisenfeld wählte diese Form des Protestes, weil er der schweigenden Mehrheit in der DDR die Augen öffnen wollte. Für ihn war die Niederschlagung des "Prager Frühlings" ein Verbrechen, und er wollte dagegen ein Zeichen setzen.

Als er ein zweites Mal loszieht, um seine Flugblätter zu verteilen, wird er von den inzwischen alarmierten Stasi-Leuten geschnappt und kommt in den "Roten Ochsen". Der Backsteinziegelbau aus wilhelminischer Zeit ist ein berüchtigtes Gefängnis in Halle. Hier hatte die Wehrmacht Deserteure hingerichtet, hier saßen in den 50er Jahren massenhaft politische Gefangene ein, beim Sturm auf das Gefängnis am 17. Juni 1953 gab es einen Toten und Verletzte.

Ein Staatsfeind unter Beobachtung

In einer Zelle verbringt Eisenfeld die Monate der Untersuchungshaft. Immer wieder sieht er sich stundenlangen Verhören ausgesetzt, immer wieder wird er in seiner Zelle kontrolliert. Der Vorwurf lautet "staatsfeindliche Hetze" – dabei hatte Eisenfeld extra einen Weg des Protestes gewählt, der sich eben nicht so leicht als "staatsfeindlich" interpretieren ließ.

Die Sicherheitsorgane aber hatten ihn schon lange im Visier. Denn Eisenfeld hatte sich bereits einem Dienst mit der Waffe bei der NVA entzogen und war als Bausoldat auffällig geworden. Er beteiligte sich mit Eingaben und Vorschlägen an der Verfassungsdiskussion von 1968 – unter anderem begeisterte er sich für das jugoslawische Modell der Selbstverwaltung in den Betrieben. Und er schrieb Leserbriefe an DDR-Zeitungen, in denen er den "Prager Frühling" gegen die Angriffe der SED-Vasallen verteidigte. Auch diese (nie veröffentlichten) Diskussionsbeiträge waren registriert worden und wurden nun gegen den Angeklagten verwendet.

Bernd Eisenfeld erinnert sich an seine erste Nachtvernehmung: ""Da ging es mir schon ein bisschen kalt über’n Rücken runter. Also der hat mich angeschrien, brutal: 'Mehrfacher Verbrecher!' und was weiß ich, und es sei ja nicht nur Staatsverbrechen gewesen, sondern mehrfaches Staatsverbrechen, ob ich mir darüber im Klaren gewesen sei, so schrie er mich an."

Ein Prozess im Unrechtsstaat

Erst drei Monate nach der Verhaftung wurde Bernd Eisenfeld der erste Kontakt zu einem Anwalt gewährt. Von Vornherein stand fest, dass der Verteidiger kein Plädoyer auf Freispruch halten konnte. Das hätte, so meinte er, ihn selbst auf die Anklagebank bringen können. Im Februar 1969, nach fünf Monaten Untersuchungshaft, fand der Prozess gegen den Staatsfeind statt – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Nur während der Urteilsverkündung durften die Lebensgefährtin und der Bruder von Bernd Eisenfeld kurz anwesend sein.

Eisenfeld saß die volle Strafe ab. Erst im "Roten Ochsen" in Halle, später in Cottbus und zuletzt im "Gelben Elend" in Bautzen. Im sechsten Haftmonat brachte seine Partnerin das zweite Kind zur Welt. 1975 ließ die DDR Familie Eisenfeld in den Westen ausreisen.

Zitate aus: "Ein Mann allein - Der August 1968 in Halle" - Feature von Tobias Barth, MDR Kultur 1998