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Katastrophenwinter 1978/79 Bildrechte: MDR/Saxonia Entertainment/Egon Nehls

Das Kraftwerk EspenhainKatastrophenwinter 1978/79: So wurde ein Bergmann zum Vaterlandsverräter

07. Februar 2023, 17:38 Uhr

Der Bergmann Günter Freitag sorgt durch entschlossenes Handeln dafür, dass das Kraftwerk Thierbach durch die Kohlezulieferung von Espenhain/Borna weiter läuft. Die Region hat weiter Strom. Doch dafür muss er Strafe zahlen und wird zum Vaterlandsverräter.

von Johanna Weinhold

Es ist Silvesterabend 1978. Der Bergmann Günter Freitag ist auf dem Weg zu seiner Zwölf-Stunden-Schicht im VEB Kombinat Espenhain. Freitag erinnert sich, dass es an diesem Tag sonnig war. Von dem Chaos, das bereits auf Rügen herrscht, weiß er nichts. Die Insel ist seit dem 29. Dezember in Folge eines 72-stündigen Schneesturms komplett von der Außenwelt abgeschnitten.

56.000 Tonnen Kohle zur Wärme- und Stromversorgung

Doch in Borna und Espenhain ist alles still. Trotzdem rufen Freitag und sein Kollege beim Wetteramt in Leipzig an. "Da sagt der, das weiß ich noch wie heute: 'Lasst euch von dem jetzigen Wetter nicht trügen. Das wird heute Nacht ganz ganz schlimm'", erinnert sich der Bergmann. Tatsächlich kippt innerhalb weniger Stunden das Wetter komplett. Die Temperaturen stürzen plötzlich um fast 30 Grad Celsius. Alles gefriert. Auch die Förderbänder vom Kraftwerk Thierbach.

Von Espenhain aus wird dieses Kraftwerk bekohlt. Im Winter fuhr das Kraftwerk immer im Vier-Block-Betrieb. Es mussten 820 MW ins Netz gespeist werden. Thierbach brauchte jeden Tag 20.000 Tonnen Kohle. "Und die mussten nach Thierbach. Wie, war egal. Dazu kamen noch 6.000 Tonnen Kesselkohle für das Kraftwerk Espenhain und 26.000 Tonnen in die Brikettfabrik zur Weiterverarbeitung", so Günter Freitag. Um im Winter die Wärme- und Stromversorgung in der Region zu gewährleisten, werden täglich 56.000 Tonnen Kohle gebraucht. Um diese Mengen zu transportieren, gibt es Förderbänder. Doch die Kollegen in Thierbach machen eine kleine Silvesterfeier und haben daher die Bänder angehalten. Als sie diese wieder anfahren wollen, sind sie eingefroren. Vor Ort sind nur die normalen Schichtarbeiter. Die Werksleitung feiert im Interhotel und ist nicht zu erreichen.

"Wir müssen das Kraftwerk retten"

Also rufen die Kollegen bei Günter Freitag an. "Ich bin mit drei Handwerkern dort hoch. Immer vor Augen: 'Wir müssen das Kraftwerk retten'", so Freitag. Mit Brennerlanzen versuchen sie die Förderbänder vom Eis zu befreien. Das klappt. Das Kraftwerk bleibt am Netz. Doch auch die ersten Januartage herrschen weiterhin Minusgrade. "Die Straßen sind alle eingefroren. Die Leute kommen nicht mehr zur Arbeit", so Freitag. "Also habe ich überlegt: Wie bekomme ich die Nachtschicht nach Hause und die Frühschicht hierher." Noch während Freitag überlegt, geht seine Tür vom Büro auf. Der Kommandeur der NVA-Truppe, die die DDR-Regierung zur Unterstützung geschickt hatte, kommt herein. Mit ihm zusammen schmiedet Freitag einen Plan.

In Espenhain und Borna, da gibt es frische Brötchen

An allen bekannten Sammelstellen, an denen sich die Schichtarbeiter treffen, um mit dem Bus in das VEB Kombinat Espenhain zu fahren, sammeln nun Armeetransporter die Mitarbeiter ein. Mit dieser Aktion gelingt es Günter Freitag den Betrieb des Kraftwerkes und damit die Stromversorgung der Region aufrechtzuerhalten. Erst im Laufe der kommenden Tage wird das Ausmaß dieses überraschenden Kälteeinbruchs erst richtig klar. Die gesamte DDR ist ohne Strom, ohne warmes Wasser. Doch nicht so in Espenhain. "In der Region Leipzig gab es keinen Bäcker mehr, der frische Brötchen hatte. Ging ja nicht. Aber dann sickerte durch: In Espenhain und Borna, da gibt es frische Brötchen", erzählt Freitag. "Da war die Frage: Wie haben die das gemacht?"

500 Mark Strafe

Am Morgen nach Schichtende klingelt bei Freitag daheim das Telefon. Der Betriebsdirektor ist dran. "Du musst 14 Uhr im Betrieb sein. Wir müssen zur Bezirksleitung nach Leipzig. Ich schicke dir das Auto und erkläre dir alles andere später", sagt er zu Günter Freitag. "Ich weiß noch, wie ich mir dachte: 'Na was ist denn nun los?" In der Bezirksdirektion in Leipzig herrscht eine ebenso eisige Stimmung wie draußen. Kein Wort des Dankes. Im Gegenteil. Günter Freitag wird als "Vaterlandsverräter" bezeichnet. Der Vorwurf: Er hätte versucht, die Nationale Volksarmee außer Kraft zu setzen. Die Gefechtsbereitschaft wäre nicht mehr da gewesen. 500 Mark Strafe muss Freitag zahlen. Er akzeptiert das ohne Widerworte. Am Abend legt der Direktor wortlos 500 Mark auf Freitags Schreibtisch.

Die DDR-Presse überschlägt sich mit Erfolgsmeldungen

In Espenhain und Borna stehen in Folge dann alle Maschinen still. Die Stromversorgung bricht zusammen. Die vor Ort stationierten NVA-Soldaten erhalten nun den Marschbefehl in den Tagebau, um mit Muskelkraft die Energieversorgung der DDR zu retten. Offizielle Angaben zur Zahl der Toten gibt es nicht. In der "Aktuellen Kamera" werden ein einziges Mal drei Tote vermeldet, die bei Verkehrsunfällen ums Leben kamen. Der Zeitzeuge Udo Beßer, der ein Buch über den Einsatz der NVA im Katastrophenwinter geschrieben hat, hat allerdings die Zahl von 18 Toten recherchiert. Am 3. Januar endlich werden 200.000 Einsatzkräfte und schwere Technik mobilisiert. Die DDR-Presse überschlägt sich mit Erfolgsmeldungen. Doch die Verluste durch den Schnee haben der DDR-Wirtschaft über Jahre hinaus geschadet.

Der Artikel erschien erstmals im Februar 2021.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR DOK - Der Katastrophenwinter 1978/79 in Oberhof | 05. Februar 2023 | 22:20 Uhr