Blick in die Chausseestraße mit sowjetischen Panzern nach der Niederschlagung des Aufstandes. Am 17. Juni 1953 protestierten in der DDR eine Million Menschen gegen den noch jungen sozialistischen Staat - bis sowjetische Panzer den Aufstand beendeten.
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den Zuständen in der DDR gipfelte im Volksaufstand am 17. Juni 1953. Bildrechte: picture alliance/dpa | Günter Bratke

Ursachen und Hintergründe Die Ursachen des Volksaufstands am 17. Juni 1953

17. Juni 2023, 05:00 Uhr

Der 17. Juni 1953 ist einer der Schicksalstage der deutschen Geschichte. Denn ausgerechnet diejenigen, für die man vorgeblich den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden errichtet hatte, bäumten sich gegen die Staatsmacht auf. Was als Streik begann, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der ganzen DDR und entfachte einen Volksaufstand, der die Zeit für ein paar Tage still stehen ließ.

Vier Jahre nach der Gründung der DDR verschärften die Mächtigen im Arbeiter- und Bauernstaat den politischen Kurs. Ein Jahr zuvor hatte man den "planmäßigen Aufbau" des Sozialismus beschlossen. Reparationszahlungen und die zunehmende militärische Aufrüstung verschlangen einen beträchtlichen Teil des Staatshaushaltes.

Menschen warten 1948 vor einem Geschäft
Schlangestehen in Leipzig, 1948. Auch später noch, im Jahr des Volksaufstands, 1953, wurden viele Lebensmittel in der DDR noch rationiert. Bildrechte: imago images/imagebroker

Wirtschaftlich setzte man vor allem auf die Energiewirtschaft und Schwerindustrie. Engpässe bei der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und Konsumgütern waren die Folge der einseitigen Aufbau- und Wirtschaftspolitik. Im achten Jahr nach dem Kriegsende wurde Fleisch, Fett und Zucker immer noch rationiert oder für horrende Preise von der staatlichen Handelsorganisation angeboten.

Repressives Vorgehen gegen unliebsame gesellschaftliche Gruppen, vor allem gegen die Kirchen, ließ die Fassade des vermeintlich demokratischen Landes bröckeln. Die steigende Unzufriedenheit und anhaltende Mangelwirtschaft ließen das Volk mit den Füßen abstimmen.

DDR-Führung nach Stalins Tod orientierungslos

Der Tod Josef Stalins am 5. März 1953 versetzte die DDR-Führung in Erschütterung und machte die Lage noch komplizierter. Es gab ihn nicht mehr, den "weisen Führer" und "genialen Feldherrn", an dem man sich orientieren konnte und von dem man wirtschaftlich und ideologisch abhängig war. An seine Stelle traten gleich mehrere Männer, die um die Macht im Kreml kämpften.

Während man in Moskau nun politische Gefangene frei ließ und die Wirtschaft neu ausrichtete – das politische Tauwetter gipfelte drei Jahre später in Chruschtschows "Geheimrede" –, klammerte sich die Staats- und Parteiführung der DDR an den stalinistische Kurs, den man eingeschlagen hatte. Steigende Flüchtlingszahlen und der Widerstand der Bauern gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft ignorierte man.

Mehr noch: Inmitten aller Unsicherheit beschloss man am 14. Mai sogar die Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent. Erste Proteste der Arbeiterschaft, wie der Streik der 9.000 Arbeiter der Eisen- und Stahlgießerei in Leipzig vom 13. bis 16. Mai, waren nur Vorboten für die Entladung des Unmuts, der sich in der Bevölkerung breit gemacht hatte.

"Neuer Kurs" soll Unzufriedenheit reduzieren

Eilig wurde die SED-Führungsspitze nach Moskau bestellt. Der Kreml gab nun den "Neuen Kurs" vor. Von einer Friedensoffensive und der Lösung der Deutschen Frage war nun die Rede. Die Führungsriege um Georgi Malenkow stellte sogar den Aufbau des Sozialismus in Frage und verordnete stattdessen bessere Lebensbedingungen und eine liberale Wirtschaftspolitik.

Mit einem Schlag wurde der Kurs der DDR-Führung auf den Kopf gestellt. Walter Ulbricht, der für seine Politik längst Kritiker in den eigenen Reihen hatte, war gezwungen, am 11. Juni eine "Reihe von Fehlern" einzugestehen und den Neuen Kurs zu verkünden. Ein Anlass zur Hoffnung, der jedoch von vielen auch als ein Eingeständnis der Schwäche interpretiert wurde.

Staatsratsvorsitzender Walter Ulbricht (DDR) spricht anlässlich des XX. Jahrestages der DDR auf einer Festveranstaltung in der Werner-Seelenbinder-Halle
Walter Ulbricht Bildrechte: imago/Werner Schulze

In Brandenburg an der Havel demonstrierten bereits am Folgetag 5.000 Menschen vor dem Gefängnis der Stadt. Sie forderten Freilassungen und freie Wahlen. Auch in Mitteldeutschland brodelte es weiter unter den Werktätigen. Ebenfalls am 12. Juni haben Arbeiter eines Betriebes in Gotha sämtliche Bilder ihrer Staatsrepräsentanten umgedreht.

Die neue Politik sollte zu einer Abmilderung des harten Kurses führen, den man gegen die Privatwirtschaft, Gewerbetreibende, Bauern und auch gegen unliebsame gesellschaftliche Gruppen, vor allem die Kirchen, eingeschlagen hatte. Selbst ein Abbau des Sicherheitsapparates stand auf der Agenda. Einzig die Arbeiter, als deren Vorhut man sich selbst definiert hatte, wurden bei der Kehrtwende vergessen. Ihre Lage besserte sich kaum. Offensichtlich hatte die Staats- und Parteiführung die Signale unterschätzt, die von Ereignissen wie in Leipzig, Brandenburg oder Gotha ausgegangen waren.

Mehr Arbeit für weniger Lohn?

Die Erhöhung der Arbeitsnormen wurde nicht zurückgenommen. Zu allem Überfluss führte man als Begründung an, dass sie die ökonomische Voraussetzung für die Politik des Neuen Kurses seien. Weiterhin galt die Parole, dass die Normen bis zum 60. Geburtstag Walter Ulbrichts am 30. Juni erfüllt werden müssen. Doch die Arbeiter waren nicht mehr bereit, inmitten des politischen Zickzackkurses, mehr Arbeit für weniger Geld zu leisten und die als "Normenschaukelei" verspottete Entscheidung mitzutragen.

Sowjetische Panzer am 17.6.1953 auf dem Marktplatz in Leipzig
Die Niederschlagung des Volksaufstands von 1953 überließ die SED-Führung dem "großen Bruder" – sowjetische Panzer am 17. Juni 1953 auf dem Marktplatz in Leipzig. Bildrechte: picture alliance/dpa

Die Arbeiter traten in den Streik, gingen auf die Straßen und demonstrierten. Mit ihnen protestierte das ganze Volk. Erstmals wurde wohl jedem Einzelnen vor Augen geführt, dass man mit seinem Unmut über die bestehenden Verhältnisse nicht allein war. Aus dem Wunsch nach sozialen Veränderungen wurden politische Forderungen. Die Forderung nach freien Wahlen und Pressefreiheit, Abzug der Besatzungstruppen und Absetzung der Regierung fanden sich auf Transparenten und in Sprechchören. Sie sprachen dem Volk aus der Seele.

Verschanzt im sowjetischen Hauptquartier, überließ die Staats- und Parteiführung den Volksaufstand dem "großen Bruder". Die eigenen Sicherheitskräfte waren vom Aufstand überrascht und mit der Situation überfordert. Hunderttausende Menschen waren in etwa 700 Städten der DDR auf der Straße, forderten ihre Rechte ein und befreiten politische Gefangene. Vor allem Mitteldeutschland als wichtiges Industriegebiet wurde außerhalb Berlins zu einem Zentrum des Volksaufstandes. Der Protest wurde mit den Ketten russischer Panzer überrollt. Schnell war die Legende von der faschistischen Provokation in die Welt gesetzt worden. Die Arbeitsnormen wurden schließlich gesenkt, doch die Weichen für eine noch Jahrzehnte andauernde Diktatur waren längst gestellt.

Der 17. Juni in Zahlen Am 17. Juni zählte die SMAD 175.450 Demonstranten. Am 18. Juni sollen es noch 122.855 gewesen sein.

In der Folge des 17. Juni wurden 6171 Personen festgenommen. Davon wurden 1526 verurteilt. Außerdem sollen durch sowjetische Militärtribunale mindestens 18 Todesurteile verhängt worden sein.

Die Lage in der Sowjetunion Mit dem Tod Josef Stalins am 05. März 1953 enstand ein Machtvakuum in der Sowjetunion, das sich in der Folge auch auf die anderen Staaten des Ostblockes auswirkte. Interne Machtkämpfe spielten sich unter anderem zwischen Ministerpräsidenten Georgi Malenkow, Geheimdienstchef Lawrenti Baria und Parteichef Nikita Chruschtschow ab.

Dieser Artikel ist erstmalig im September 2015 erschienen und wurde im Juni 2023 überarbeitet.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | Aufstand und Protest - Für welche Ideale lohnt es sich zu kämpfen | 11. Juni 2023 | 22:00 Uhr