Weißes Gebäude mit großer Glasfront am Strand
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

DDR-Architektur Ulrich Müther: Schwungvolle Bauten aus Beton

28. Juli 2023, 16:24 Uhr

Mit DDR-Architektur verbindet man gemeinhin seelenlose Satellitenstädte und Plattenbauten. Doch auch im Land der Einheitsfassaden gab es Architekten, die andere Vorstellungen von modernem Bauen hatten. Einer von ihnen war der Baumeister Ulrich Müther. Müther entwarf die Prestigebauten des Sozialismus. Gebäude, die sich schmetterlingsleicht und beinahe schwerelos ausnehmen – Gaststätten, Musikpavillons, Eisdielen, Haltestellenhäuschen, Sporthallen, Planetarien. Seine Bauten sollten Abwechslung in die trostlosen Plattenbausiedlungen bringen.

Betonkonstruktion in Form einer Muschel
Die Kurmuschel befindet sich am östlichen Ende der Kurpromenade in Sassnitz. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Dachkonstruktionen nach Vorbildern aus der Natur

Müthers Markenzeichen waren kühne Dachkonstruktionen, die jedermann in der DDR kannte. Müther faltete den Beton, legte ihn wie Samt aus oder hisste ihn wie Segel gegen den Wind. Als Vorbild diente ihm dabei die Natur: Als Kind hatte er mit Muscheln am Ostseestrand gespielt und war fasziniert von ihrer dünnen, doch enorm belastbaren Schale. So wollte er einmal bauen. Und tatsächlich trieb er seine phantastischen Beton-Schalentragwerke zur Perfektion - und das in einem Land, in dem die rechtwinklige "Platte" das Ende aller architektonischen Träume sein sollte.

Ulrich Müther 2001 vor Strandrettungsturm in Binz
Der Architekt Ulrich Müther vor seinem Rettungsturm am Strand von Binz auf Rügen. Bildrechte: IMAGO / Jens Koehler

Müthers Architektur wird briefmarkenreif

Sich gegen Widerstände zu behaupten, hatte der am 21. Juli 1934 in Binz auf Rügen geborene Müther früh lernen müssen. Da sein Vater Architekt und Unternehmer war, wurde ihm das Abitur verweigert. Müther wurde zunächst Zimmermann, studierte anschließend Bauingenieurwesen in Neustrelitz und trat 1958 als technischer Leiter in das mittlerweile verstaatlichte Familienunternehmen ein. Nach Feierabend tüftelte er an seinen Dachkonstruktionen aus Spannbeton und bekam Mitte der 1960er-Jahre erste Aufträge. Müther entwarf den "Teepott" in Warnemünde, den "Musikpavillon" in Sassnitz, den "Ufer-Pavillon" in Potsdam, das Wurzelwerk des Berliner Fernsehturms. Das sogenannte "Ahornblatt" auf der Berliner Fischerinsel, das als gesellschaftliches Zentrum für das mit Hochhäusern in Plattenbauweise neu gestaltete Wohngebiet fungierte, wurde 1973 sogar auf einer Briefmarke abgebildet.

Gaststätte - Teepott - des Architekten Ulrich Müther in Warnemünde
Der "Teepott" in Warnemünde wurde auch von Ulrich Müther entworfen. Bildrechte: IMAGO / Sabine Gudath

Tauschgeschäft: Müther-Bauten gegen VW-Golf

Die Resistenz gegen das uniformierte Bauen in der DDR bescherte dem "Landbaumeister aus Rügen", wie Müther sich selbst bezeichnete, zu keiner Zeit Probleme mit der Obrigkeit, ganz im Gegenteil. Die Satellitenstädte brauchten markante Zentren – Wohngebietsgaststätten oder Schwimmhallen – oder das eine und andere auflockernde Gebäude, ein Haltestellenhäuschen etwa oder einen Kiosk. "Für den Schwung in den Plattenbausiedlungen war ich zuständig", sagte Müther einmal. Und so entwarf er bis 1989 etwa fünfzig Gebäude mit den markanten Dachkonstruktionen, die heftig aus dem architektonischen Einerlei herausragten. Und da die DDR Devisen brauchte, ließ sie ihren unangepassten Baumeister in aller Welt seine Pläne verwirklichen – in Jordanien, Kolumbien, Kuwait und Finnland. Mitte der 1980er Jahre baute Müther in Wolfsburg ein Planetarium, und die DDR bekam dafür 10.000 VW Golf.

Ulrich Müther und seine Spuren auf der Insel Rügen

Auf der Insel Rügen begegnet man immer wieder den eleganten Bauten des Baumeisters Ulrich Müther. Er ist an der Ostsee aufgewachsen und hat sich die Natur zum Vorbild genommen.

Weißer Sandstrand mit Strandkörben, im Hintergrund ein Gebäude mit großer Glasfassade
Das "Inselparadies" am Strand von Baabe auf Rügen. Das Gebäude wurde 1966 fertiggestellt und als Restaurant, Disko und Kiosk genutzt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
Weißer Sandstrand mit Strandkörben, im Hintergrund ein Gebäude mit großer Glasfassade
Das "Inselparadies" am Strand von Baabe auf Rügen. Das Gebäude wurde 1966 fertiggestellt und als Restaurant, Disko und Kiosk genutzt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
Weißes Gebäude mit großer Glasfront am Strand
Seit 1997 steht das "Inselparadies" unter Denkmalschutz. Es wurde aufwändig saniert. Die Schalenkonstruktion Müthers blieb dabei erhalten. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
Weiße Betonkonstruktion mit großen Fenstern
Dieses "UFO" steht am Strand von Binz. Ursprünglich nutzte es die Strandwacht als Rettungsturm, heute ist es eine Außenstelle des Standesamtes Binz. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
Ulrich Müther 2001 vor Strandrettungsturm in Binz
Der Baumeister Ulrich Müther vor seinem Rettungsturm in Binz im Jahr 2001. Bildrechte: IMAGO / Jens Koehler
Geschwungene Betonkonstruktion
Dieses Segel aus Beton steht in Binz an einem Kreisverkehr. Es wurde 1967 als Modellschale errichtet und als Buswartehaus genutzt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
Betonkonstruktion in Form einer Muschel
Die "Kurmuschel" an der Promenade in Sassnitz dient als Veranstaltungsort und bietet den Besuchern Ausblick auf die Ostsee. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
Halbrundes Häuschen aus Beton mit Eingang und Bullaugen
1973 zerstörte ein Sturm auf Rügen mehrere Buswartehäuschen. Danach entwarf die Firma Müther diese windsichere Variante, die an einen Taucherhelm erinnert. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
Zwei Bullaugen und eine gebogene Holzbank
Dieses Wartehäuschen steht seit 1974 an einer Bushaltestelle in Buschvitz auf Rügen. Es ist auch ein für Ulrich Müther typischer Schalenbau, der mit Spritzbeton verkleidet wurde. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
Gebäude mit abfallendem Dach und großer Glasfassade
Die "Ostseeperle" in Glowe mit ihrer großen Fensterfront, die zur Ostsee zeigt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
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Müthers Bauten nach 1989: Abriss und Verfall

Mit dem Ende der DDR wurde es für Ulrich Müther schwer, sich zu behaupten. Seine Konstruktionen waren zwar Material sparend, aber sehr arbeitsintensiv. Und anders als in der DDR kostete Material jetzt fast nichts mehr, dafür waren Arbeitskräfte teuer. Müther entwarf noch eine Tankstelle in Schwerin, eine Kirche in Hannover und Radrennbahnen in Cottbus und Eisenhüttenstadt - und das war's. Doch was ihn am meisten schmerzte: Viele seiner alten Bauten wurden dem Verfall preisgegeben oder - wie das berühmte "Ahornblatt" auf der Berliner Fischerinsel - einfach abgerissen, um Platz für ein seelenloses Einkaufszentrum zu schaffen.

Ulrich Müther, der längst als ein Klassiker der modernen Architektur gilt, starb im August 2007 in seiner Heimatstadt Binz auf der Insel Rügen.

Dieser Artikel wurde erstmals 2009 veröffentlicht.