HärtefallfondsSchuften für den Klassenfeind: Zwangsarbeit in DDR-Gefängnissen
Ob Ikea, Aldi, Quelle, C&A oder Siemens: Sie alle profitierten von der Zwangsarbeit von Häftlingen in DDR-Gefängnissen. Viele dieser ehemaligen Häftlinge leiden bis heute unter den körperlichen und seelischen Folgen. Eine Entschädigung für ihre Arbeit haben sie bis heute nicht erhalten. Nun hat der Möbelkonzern Ikea aber angekündigt, sich mit sechs Millionen Euro an dem geplanten Härtefallfonds für Opfer der SED-Diktatur zu beteiligen.
Inhalt des Artikels:
Ikea, Aldi, Quelle, Woolworth, C&A, Siemens* und viele andere Firmen profitierten vor dem Mauerfall von der Arbeit von Häftlingen in DDR-Gefängnissen. Insgesamt waren es mehr als 6.000 Unternehmen, die sich an diesem fragwürdigen deutsch-deutschen Handel beteiligten. Dabei hatten die Zwangsarbeiter, die im DDR-Knast für den Klassenfeind schuften mussten, harte Normvorgaben zu erfüllen. Wer das nicht schaffte, konnte in Dunkelzellen oder Isolierhaft landen und bekam die Essensration gestrichen.
Harte Zwangsarbeit im DDR-Knast
Jeden Tag aufs Neue wird Holger Rossmann an die gefährliche Zwangsarbeit erinnert, die er 1975 im Chemiekombinat Bitterfeld verrichten musste. Giftige Chlorlauge verätzte seine Haut, Quecksilberdämpfe beschädigten seine Lunge. Der 69-Jährige, der heute in Rheinland-Pfalz lebt, leidet unter Hautproblemen, Depressionen und Schlafstörungen. Auch Elke Schlegel aus Koblenz, die im berüchtigten Frauenzuchthaus Hoheneck eingesperrt war, hat immer noch mit den Folgen ihrer Haft zu kämpfen. Sie leidet unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung und Depression.
Dabei wollten Holger Rossmann und Elke Schlegel nur in die Freiheit. Holger Rossmann hatte sich in eine Frau aus der Bundesrepublik verliebt und Elke Schlegel wollte raus aus der DDR mit ihren ständigen Einschränkungen.
Zwangsarbeit in DDR-Haft unter giftigen Dämpfen
1975 wurde Holger Rossmann zu zwei Jahren Haft wegen angeblicher Propaganda für den Klassenfeind verurteilt. Er musste im Haftarbeitslager im Chemiekombinat Bitterfeld schuften, in veralteten Anlagen, aus denen ständig giftige Chlor- und Quecksilberdämpfe austraten. "Es war extrem heiß", erinnert sich Rossmann.
Deshalb trat immer Quecksilber aus. Ich wusste zwar, dass Quecksilber giftig war. Aber wie gefährlich das für die Gesundheit war, davon hatte ich keine Ahnung.
Holger Rossmann, DDR-Häftling und Zwangsarbeiter
Die Häftlinge wurden dort eingesetzt, wo normale Werktätige nicht arbeiten wollten, weil es zu gefährlich und schädlich für die Gesundheit war.
Essen im Gefängnis Hoheneck: "für den Verzehr ungeeignet"
Elke Schlegel wurde 1984 in Jena verhaftet. Ihren zweijährigen Sohn konnte sie noch schnell ihrer Mutter übergeben, dann wurde sie abgeführt. Ihr Vergehen: Sie hatte einen Ausreiseantrag gestellt und mit ihrem Cousin im Westen telefoniert. Wegen "ungesetzlicher Verbindungsaufnahme" verurteilte man sie zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis.
Ihre Strafe verbüßte sie im berüchtigten Zuchthaus Hoheneck unter fast unmenschlichen Haftbedingungen. Das Essen war eigentlich ungenießbar, so Schlegel. Denn auf den Säcken, mit denen es in die Küche transportiert wurde, stand "Für den menschlichen Verzehr ungeeignet". In den Suppen aus Möhren- und Kartoffelschalen schwammen Kakerlaken.
Zwangsarbeit: Arbeiten bis zum Umfallen
Und Elke Schlegel musste ebenfalls Zwangsarbeit verrichten: Feinstrumpfhosen nähen im Akkord, ohne Pause. Geregelte Arbeitszeiten gab es nicht. Wer die Norm nicht schaffte, bekam die ohnehin karge Essensration gestrichen oder wurde in Isolationshaft genommen.
Ina Jaekel, die eingesperrt war, weil sie in den Westen abhauen wollte, war einmal bei der Arbeit zusammengebrochen. Sie wurde in die Krankenstation gebracht, wo der Arzt sie nur kurz ansah und nach ihrem Alter fragte. Die Antwort hat Ina Jaekel auch nach 37 Jahren nicht vergessen: "Wie alt bist Du? 18? Aufstehen, weitermachen!"
Schuften für den Westen
Viele Frauen ruinierten bei dieser harten Zwangsarbeit im Zuchthaus Hoheneck ihre Gesundheit. Und was viele nur ahnten: Sie schufteten auch für Unternehmen in der Bundesrepublik – das verbreiteten kriminelle Häftlinge, die nicht so streng isoliert waren wie die politischen, erinnert sich Elke Schlegel.
Die Häftlinge haben darüber gesprochen. Und die Kriminellen hatten mehr Kontakt nach draußen. Und da hieß es dann, dass wir Strumpfhosen für den Westen nähen würden.
Elke Schlegel,, DDR-Häftling und Zwangsarbeiterin
Zwangsarbeit für den Wühltisch
1985 wurde Elke Schlegel von der Bundesrepublik freigekauft. In einem Supermarkt im Westen erkannte sie die Strumpfhosen, die sie im DDR-Zuchthaus genäht hat. Die lagen dort auf dem Wühltisch, so Schlegel. Und auch die Bettwäsche aus Hoheneck. "Am liebsten hätte ich laut losgeschrien und den Leuten erzählt, unter welchen Bedingungen das hergestellt wird."
Bei Aldi wurden die Strumpfhosen aus dem Osten unter dem Namen Sayonara und Iris verkauft. Auch Woolworth, Karstadt, Hertie, Neckermann und Quelle verkauften Strumpfhosen und Bettwäsche aus dem DDR-Knast.
Westfirmen profitierten von der Zwangsarbeit in der DDR
Dazu kamen Kameras, Schuhe, Kassetten, Möbel, Kleidung, Küchenherde, Fernseher – insgesamt profitierten etwa 6.000 Firmen wie Siemens, Ikea, C&A, Hertie* und viele andere in der Bundesrepublik von der preiswerten Häftlingsarbeit aus der DDR. Die hatte jährlich ein Umsatzvolumen von 200 Millionen D-Mark, ergaben spätere Schätzungen der Stasi-Unterlagenbehörde.
Ungefähr 40.000 Häftlinge schufteten im DDR-Gefängnis für Firmen in der Bundesrepublik. Einige von ihnen meldeten sich nach der Haftentlassung und Ausreise in den Westen bei der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte in Frankfurt. Karl Hafen war damals der Vorsitzende des Vereins und schrieb einige der Firmen an, welche die Knastware aus dem Osten mit prächtigem Gewinn im Westen verkauften. "Wir haben die Firmenleitungen angeschrieben", erinnert er sich. "Neckermann hat es abgestritten, Quelle nicht geantwortet."
Unternehmen wollen kaum Verantwortung übernehmen
An diesem Verhalten hat sich bis heute nur wenig geändert. Zur Jahreswende 2020/21 schrieb Dieter Dombrowski von der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft Unternehmen an, die früher Waren verkauft hatten, die ganz oder teilweise in DDR-Gefängnissen gefertigt worden waren. Sie wurden gebeten, einen Härtefallfond für ehemalige politische Häftlinge zu unterstützen.
Bis auf Ikea gab es fast ausnahmslos Ablehnungen. Die häufigste Begründung: Man habe von nichts gewusst. Dombrowski lässt das nicht gelten. Denn die westdeutschen Unternehmen, die mit Produkten aus der DDR gehandelt haben, hätten alle ausnahmslos gewusst, wo sie herkommen, so Dombrowski, der selbst als politischer Häftling Zwangsarbeit im DDR-Gefängnis leisten musste.
Roland Jahn, der letzte Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen vor der Überführung der Stasiakten ins Bundesarchiv, findet die Haltung der Unternehmen, die sich aus ihrer moralischen Verantwortung stehlen wollen, äußerst fragwürdig. Gegenüber MDR ZEITREISE sagte Jahn:
Vor allen Dingen geht es darum, auch den Opfern gerecht zu werden. Und was ich beobachte, ist aber, dass man den Menschen, die in der DDR gelitten haben, denen Unrecht widerfahren ist, bis heute nicht gerecht wird. Und deswegen ist es wichtig, dass hier weiter gearbeitet wird, dass dafür eingetreten wird, dass es zum Beispiel einen Hilfsfonds gibt für Menschen, die in Zwangsarbeit ihre Gesundheit sozusagen aufs Spiel gesetzt haben.
Roland Jahn, Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen
Immerhin zeigte sich der Möbelkonzern Ikea einsichtig. Das Unternehmen kündigte Ende Oktober 2024 an, sechs Millionen Euro in den geplanten Härtefallfonds für Opfer der SED-Diktatur einzuzahlen. Vorausgegangen war eine unabhängige Untersuchung der Zwangsarbeitsvorwürfe gegenüber Ikea, die etwa 2012 aufgetaucht waren. Der Geschäftsführer von Ikea, Walter Kadnar, saggte nun: "Wir bedauern zutiefst, dass auch Produkte für Ikea von politischen Häftlingen in der DDR produziert wurden."
Dieser Artikel ist im März 2021 erstmalig erschienen und wurde im Oktober 2024 aktualisiert.
* In eigener Sache:In einer ersten Fassung hatten wir berichtet, dass zu den westdeutschen Firmen, die von Zwangsarbeit profitierten, auch das Unternehmen Otto gehörte. Das war nicht korrekt. Auch hat Otto nie einen Härtefonds explizit abgelehnt. Wir haben das im Artikel berichtigt.
Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | 29. Oktober 2024 | 13:30 Uhr