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DDR-Schiffsunglück im Oktober 1976Warum versank der DDR-Tanker "Böhlen" im Atlantik?

01. September 2022, 05:00 Uhr

48 Grad 10 Minuten 7 Sekunden Nord, 5 Grad 11 Minuten 8 Sekunden West. Bei diesen Koordinaten, nahe der bretonischen Küste, liegt in 110 Metern Tiefe das Wrack des DDR-Tankers "Böhlen". Am 14. Oktober 1976 hatte das Schiff Klippen nahe der französischen Insel Île de Sein gerammt. Der Kapitän und auch seine Offiziere unternehmen nichts zur Rettung des sinkenden Schiffes. 26 Menschen sterben.

Am frühen Morgen des 14. Oktober 1976 im Atlantik: Der Öltanker "Böhlen" der Hochseeflotte der DDR ist aus Venezuela kommend unterwegs nach Rostock. Die See ist stürmisch, der Himmel voller Wolken und ein Sturm braut sich in jener Oktobernacht 1976 zusammen, als das Tankschiff direkt in die Klippen vor der französischen Insel de Sein steuert und unter der Wasserlinie der Länge nach aufgerissen wird.

Kurz vor vier gab es zwei oder drei harte Schläge  - ich bin gleich aus der Koje rausgefallen.

Wolf-Dieter Speckin, 3. Technischer Offizier | Protokoll einer Katastrophe: Der rätselhafte Untergang des DDR-Tankers Böhlen, Film von Michael Erler

Die Kommandobrücke ist in dieser Nacht zeitweise nicht besetzt. Nicht zum ersten Mal und trotz der Sturmwarnung. Hinzu kommt: Die Position der "Böhlen" ist falsch berechnet – ein Navigationsfehler, der direkt in das klippenreiche Gebiet und damit in die Katastrophe führt. Ein Fehler einer ganzen Reihe, der seine Ursache nicht zuletzt in ausufernden Alkoholrunden beim Kapitän selbst hatte. Der gilt zwar als erfahren, ist aber auch für seine Trinkfreude bekannt.

Das Gebiet der Katastrophe

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Kapitän und Offiziere sehen tatenlos zu

Und der nächste Fehler lässt nicht lang auf sich warten. Trotz Leck und haushohen Wellen lenkt der Kapitän sein Schiff aufs offene Meer hinaus, der Mannschaft wird vorgegaukelt, es wäre alles in Ordnung. Selbst als das Vorderschiff zu sinken beginnt, unternehmen die Offiziere nichts.

Eine Stunde später ist vom Vorschiff nichts mehr zu sehen. Erst jetzt, am Nachmittag, lässt der Kapitän SOS funken. Doch schon wird von seiner Besatzung einer nach dem anderen von Bord gespült, Wasser dringt in den Maschinen- und den Funkraum ein. Viel zu spät erkennen die Matrosen und Stewardessen im hinteren Teil des Schiffes den Ernst der Lage. Einige können sich zunächst auf ein zerstörtes Rettungsboot und ein Floß retten.

Ölverschmutzung und nur wenige Überlebende

Spät in der Nacht entdeckt der westdeutsche Hochseeschlepper "Pazifik" die Schiffbrüchigen. Fünf Männer können gerettet werden. Französische Fischer nehmen zwei weitere Schiffbrüchige auf. Die großangelegte Rettungsaktion wird durch schlechtes Wetter, fehlende Rettungsmittel und den sich ausbreitenden Ölteppich erschwert. Bald spülen die Wellen die ersten Toten an. Insgesamt sterben 26 Menschen bei dem Unglück, darunter der Kapitän, alle nautischen Offiziere und zwei mitreisende Ehefrauen. Nur elf Seeleute überleben den Untergang der "Böhlen".

Die Katastrophe hatte auch schwerwiegende Folgen für die Umwelt. Der Tanker hatte fast 10.000 Tonnen Rohöl an Bord, von denen bis zu 2.000 ins Meer flossen. Noch 19 Jahre danach galt auf der Insel de Sein ein Fischfangverbot wegen der Ölverschmutzung.

"Aufarbeitung" - Überlebende werden abgespeist

Bei den nachfolgenden Ermittlungen werden auch der laxe Dienstbetrieb und der übermäßige Genuss von Alkohol vermerkt – an die Öffentlichkeit dringt davon nichts. Ein halbes Jahr nach dem Unglück spricht die Seekammer den Kapitän schuldig am Untergang der "Böhlen" und am Tod der Seeleute.

Die Überlebenden werden mit Sonderurlaub, Geld und kürzeren Wartezeiten auf ein Auto entschädigt. An den Kosten für die Aufräumarbeiten an der französischen Küste beteiligt sich die DDR dagegen so gut wie gar nicht.

Darüber, warum der Kapitän und seine Offiziere so und nicht anders entschieden haben, kann letztlich nur spekuliert werden – alle, die man fragen könnte, sind ums Leben gekommen. Hatte man das Ausmaß des Lecks unterschätzt und wollte – als DDR-Schiff in internationalen Gewässern – nur so schnell wie möglich weg vom Unfallort? Fakt ist, dass die "Böhlen" in nur ein paar Stunden Fahrt eine geschützte Bucht an der französischen Küste hätte erreichen, und dort Hilfe finden können.

Das ist eigentlich das, was im Nachhinein so schmerzt. Weil, das hätte einfach nicht sein brauchen. Selbst nach der Grundberührung hätte es nicht sein brauchen, hätte man alles vernünftig und seemännisch sauber lösen können –  dass man das Schiff in flaches Gewässer bringt und die Leute rettet.

Wolf-Dieter Speckin, 3. Technischer Offizier

(Quelle: Protokoll einer Katastrophe: Der rätselhafte Untergang des DDR-Tankers Böhlen, Film von Michael Erler)

Dieser Artikel wurde erstmals 2017 veröffentlicht.

"Lebensretter" erinnert an zwei weitere DDR-Schiffsunglücke am 1. September 2022, 20:15 Uhr im MDR.

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