Unser Sommer '89 Liebe an der Trasse

01. April 2022, 14:07 Uhr

1989: Zehntausende DDR-Urlauber nutzen die Ferien am Balaton, um in den Westen zu kommen. Gleichzeitig arbeiten Tausende junge Frauen und Männer in der Sowjetunion an dem zentralen Jugendprojekt "Erdgastrasse". Weit weg von zu Hause und ohne zu wissen, was gerade in der DDR passiert, erleben die sogenannten "Trassniks" einen Sommer voller Arbeit und Freundschaften. Und manch einer findet sogar die Liebe seines Lebens.

Zum ersten Mal arbeiten Heike und Heinrich nicht hunderte Kilometer getrennt an verschiedenen Standorten der Trasse. Im Sommer 1989 dürfen sie - noch unverheiratet - sogar gemeinsam wohnen. "Wir haben in einer Wohnung gelebt mit zwei Zimmern. Davon hatten wir eins, das andere drei Bauarbeiter. Wir haben uns ein Bad und Küche geteilt", erzählt Heike Fiedler, die mit 21 Jahren an die Trasse ging.

Der Wunsch: Familie, kochen, backen

Sie ist gelernte Uhrmacherin und als Sachbearbeiterin 1989 das sechste Jahr dabei. Heinrich baut Wege, Spielplätze und Häuser für die neuen Siedlungen. Das zehnte Jahre schon. Mit der Hochzeit 1989 soll es endlich wieder nach Hause in die DDR gehen. "Das sollte auch wirklich der Termin sein zum Aufhören, weil mich das nicht weiter befriedigt hat", erzählt Heike Fiedler. "Ich wollte selber backen, kochen, eine Familie und ein normales Leben. Sechs Jahre, immer das Bad mit vielen Leuten teilen, das fand ich nicht so spannend und lustig."

15.000 Arbeiter an der Trasse

Die Erdgastrasse war das neue "Zentrale Jugendobjekt" der FDJ und Nachfolgerin der Druschba-Trasse. Mit rund 5.000 Kilometern wird sie fast doppelt so lang wie ihre berühmte Vorgängerin. Bis zu 15.000 Arbeiter aus der DDR schuften an den beiden Abschnitten der DDR in der Ukraine und in Russland. Doch die DDR baut noch mehr: Wohnungen, Krankenhäuser, Kaufhallen, Kindergärten, Schulen, Polikliniken, Bushaltestellen und Fußwege – alles für das sowjetische Personal, das hier künftig arbeiten wird.

Die Trassniks hatten immer Arbeit und kaum Freizeit

"Sonnabend und Sonntag haben wir zwölf und unter der Woche 14 bis 15 Stunden gearbeitet", so Heinrich Fiedler. Das war Pflicht. Immerhin hatte ein Trassenbauer nach drei Jahren Arbeit Anspruch auf eine eigene Wohnung, ein Auto und sogar auf einen Studienplatz. "Wir hatten irgendwo eine Sonderstellung, die wir uns erarbeitet haben. Viele haben uns beneidet, weil es uns generell gut ging und weil wir natürlich gutes Geld verdient haben", so Fiedler weiter.

Heimaturlaub in der DDR: Ein Hochgenuss

Das Geld haben beide auch ausgegeben. Drei Mal im Jahr gab es Heimaturlaub in Mühlhausen. Es war eine Heimkehr zu Freunden und Familie und auch zu gut gefüllten Geschäften und Kaufhäusern der DDR. "Das war ein Hochgenuss durch eine Stadt zu laufen", erinnert sich Heike Fiedler. "Für uns war die DDR in Ordnung. Wir kannten die Geschäfte in Russland, deshalb war es toll, durch die Einkaufsmärkte zu gehen und im Urlaub vieles kaufen zu können. Wir haben deswegen die Probleme nur so am Rande mitbekommen, die haben uns nicht so berührt."

Telefonat '89: "Die Hälfte ist schon weg"

Informationen aus der Heimat kommen mit wochenlanger Verspätung per Brief, Telefonate gibt es nur im Notfall. Im Sommer '89 kann Heinrich Fiedler plötzlich unkomplizierter mit der Heimat telefonieren. "Wir hatten in Lipezk ein Telefon. Da kam dann die Info: Wenn ihr euren Nachbarn nochmal sehen wollt, müsst ihr jetzt kommen, die Hälfte ist schon weg", erzählt Heinrich Fiedler. "Wie weg? Ja, die Engpässe sind so groß, die sehen keine Alternative mehr, keine Zukunft mehr, das geht zu Grunde. Das haben wir in Russland gar nicht mitbekommen."

Hochzeit kurz vor Ende der DDR

Am 8. September 1989 heiraten Heike und Heinrich schließlich – zu Hause in der DDR. Das Abenteuer Trasse ist für beide beendet. Auch die DDR wird es nur zwei Monate später so schon nicht mehr geben.

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