Reparationsgüter, 1947, Güterbahnhof Eutritzscher Straße, Leipzig
Reparationsgüter am Güterbahnhof Eutritzscher Straße in Leipzig 1947. Bildrechte: imago/imagebroker

August 1945 - Erstes Kursbuch Wiederaufbau der Bahn nach dem Krieg

12. August 2022, 11:22 Uhr

Die Siegermächte entschieden in ihren Besatzungszonen nach Kriegsende über die Zukunft der Eisenbahn. In Westdeutschland gelang die Wiederherstellung der zerstörten Bahntrassen relativ schnell. Ostdeutschland jedoch litt jahrzehntelang an den umfangreichen Demontagen im Rahmen der Reparationszahlungen an die Sowjetunion. Darüber sprachen wir im August 2020 mit Dr. Rainer Mertens vom DB-Museum in Nürnberg.

75 Jahre Kursbuch – was bedeutet das Jubiläum für die deutsche Eisenbahngeschichte?

Kursbücher gibt es ja schon viel länger, seit Mitte des 19. Jahrhunderts – aber vor 75 Jahren gab es erstmals wieder seit Kriegsende regelmäßige Eisenbahnverbindungen und damit auch Kursbücher. Freilich kein gesamtdeutsches mehr, sondern jede der vier Besatzungszonen hatte ihr eigenes Kursbuch. Mit der Gründung der Bundesbahn im Westen und der Übertragung der Reichsbahnverwaltung von der sowjetischen Militäradministration auf die staatlichen Organe der neugegründeten DDR im Jahr 1949 gab es dann zwei getrennte Kursbücher für Bundesbahn und Reichsbahn.   

In welchem Zustand befand sich die Eisenbahn in Ost und West nach dem Zweiten Weltkrieg?

Unmittelbar nach Kriegsende war vieles zerstört. Der Verkehr war insgesamt zum Erliegen gekommen, weil die Alliierten, speziell die US-Amerikaner, darauf gekommen sind: Wenn man Strecken bombardiert, sind sie sehr schnell instandgesetzt. Selbst wenn man Brücken bombardiert, bauen die Eisenbahnpioniere innerhalb von ein paar Stunden eine neue Brücke. Aber wenn man die großen Rangierbahnhöfe zerstört, dann läuft nichts mehr, denn das waren die Schaltstellen, dann kann man keine Zugbildung mehr machen. Das haben sie dann getan und der Verkehr kam völlig zum Erliegen.

Das war die Situation Ende 1945 in ganz Deutschland, in Ost wie West, dass sehr viel zerstört war. Es wird z.B. auch oft gesagt, dass die Alliierten von den Vernichtungslagern im sogenannten Generalgouvernement wussten und warum sie mit diesem Wissen die Eisenbahnstrecke nicht bombardiert haben? Aber das hätte überhaupt nichts gebracht, die wären innerhalb von wenigen Stunden wieder in Gang gewesen. Aber die Rangierbahnhöfe waren die Achillesferse.

Wie entwickelte sich die Situation weiter in den verschiedenen Besatzungszonen?

Es kommt zu einer unterschiedlichen Entwicklung in den verschiedenen Zonen. Die Westzonen schließen sich zusammen - zunächst die amerikanische und die britische - und richten da eine gemeinsame Eisenbahnverwaltung ein. Das geschieht schon 1947. Die Franzosen beteiligen sich zunächst noch nicht und die Sowjetunion natürlich auch nicht. In den Besatzungszonen wird jetzt unterschiedlich mit der Eisenbahn umgegangen. Während in der britischen und amerikanischen Zone Demontagen von Eisenbahnanlagen relativ moderat stattfinden, haben in der französischen und insbesondere in der sowjetischen Zone umfangreiche Abbauten von Eisenbahnanlagen stattgefunden und auch Überführungen von Fahrzeugen.

In der sowjetischen Besatzungszone war das sehr extrem, da wurde auch bei fast allen Strecken das zweite Gleis abgebaut, zum Teil sogar Anlagen, die die Deutschen wieder aufgebaut hatten nach den Kriegsschäden. Als Beispiel wäre das elektrifizierte Netz in Mitteldeutschland zu nennen, das 1946 wieder instandgesetzt war: um Leipzig und Halle. Das waren fast 500 Kilometer elektrifizierte Strecken. Doch dann hat die sowjetische Militäradministration beschlossen, dass alle elektrischen Anlagen abgebaut werden - einschließlich der Kraftwerke, die den Bahnstrom lieferten. Es wurde alles abgerissen und in die Sowjetunion abtransportiert.

Welche Folgen hatten diese Demontagen für die Eisenbahn?

Man musste die elektrischen Lokomotiven durch Dampflokomotiven ersetzen, man hatte aber nicht genügend Dampflokomotiven. Auch die Ausrüstung aller großen Lokomotivfabriken wurde in die Sowjetunion gebracht, inklusive aller Maschinen. Man kann das zu einem gewissen Grad verstehen, weil die Deutschen während des Krieges in der Sowjetunion gehaust haben wie die Berserker, alles zerstört und verbrannte Erde hinterlassen haben. Aber das hat das Netz in der späteren DDR sehr geschwächt, auch der Abbau der zweiten Gleise. Historiker sagen, dass sich die DDR-Eisenbahn davon nie mehr erholt hat. Bis zuletzt.

Haben diese Reparationen der Sowjetunion wenigstens genutzt?

Das hat der Sowjetunion nichts gebracht, so dass es in der Rückschau als sinnlos und kontraproduktiv erscheint. Denn die ganzen Eisenbahnnormen haben nicht zusammengepasst, die Spurweiten waren verschieden, die Stromsysteme waren verschieden, das hätte man alles adaptieren müssen für das Streckennetz der Sowjetunion. Das hat man aber organisatorisch nicht hingekriegt. Deshalb war es größtenteils so, dass Wagenmaterial und Lokomotiven und auch all die Maschinen, die man aus den Werken geholt hat, einfach verrottet sind. Teilweise hat man sie dann unter großer Geste Anfang der 1950er-Jahre wieder zurückgebracht, das elektrische Kraftwerk Muldenstein wurde wieder zurückgebracht, das Bahnstrom geliefert hat. Das wurde dann dargestellt als großartige Hilfe der Sowjetunion, man hat aber nicht erwähnt, dass die DDR dafür ein paar hundert Güterwagen hatte liefern müssen.

Mit welchen Schwierigkeiten musste die Eisenbahn nach dem Krieg kämpfen?

Mit dem allgegenwärtigen Materialmangel. Dann mit Überlastung, denn man kann sich vorstellen: Wenn überall das zweite Gleis abgebaut wurde und derselbe Verkehr auf einem Gleis laufen muss wie zuvor auf zwei Gleisen, dass das natürlich zu einem hohen Verschleiß führt. Zum einen gehen ab etwa 1948 - also dem Zeitpunkt, wo klar wird, dass die sich die Sowjetzone definitiv trennt vom Westen, immer mehr Fachkräfte in den Westen. Damit verliert die DDR-Eisenbahn natürlich wichtiges Know-how. Und als die Reichsbahn gegen Ende der 1950er-Jahre von Dampf- auf Dieselloks umsteigen wollte, gab es zum Beispiel keinen Ingenieur mehr, der vernünftige hydraulische Getriebe bauen konnte. Es war gleichzeitig untersagt, Getriebe aus dem Westen zu bestellen, und da musste man mühsam eigene Getriebe entwickeln. Das hat natürlich Jahre gedauert und das ganze um Jahre verzögert. Auch das dauernde Eingreifen der Sowjetunion war ein großes Hindernis beim Wiederaufbau. Denn die Lokomotivfabriken, die es noch im Land gab, mussten für die Sowjetunion produzieren und nicht für die Reichsbahn der DDR.

Wie war insgesamt das Tempo des Wiederaufbaus bei der Eisenbahn in Ostdeutschland?

Ab 1953 begann man in der DDR, allerdings sehr behelfsmäßig, altes Fahrzeugmaterial aufzuarbeiten. Das war in der DDR ein Dauerzustand, während es im Westen vorübergehend so gemacht wurde. Lokomotiven wurden mit Teilen aus anderen Fahrzeugen wiederhergestellt, das waren die sogenannten Reko-Loks, also Rekonstruktionslokomotiven. Erst 1963 war in etwa wieder der Zustand von vor dem Zweiten Weltkrieg erreicht, aber mit Abstrichen. Und in der Literatur findet man die Angabe, dass der Rückstand der Reichsbahn gegenüber der Bundesbahn in Westdeutschland, wo die Eisenbahn in den ersten Jahren auch nicht im Mittelpunkt des Interesses stand, etwa sieben bis zehn Jahre betrug. Bei allen Maßnahmen, wie Modernisierung von Streckenelektrifizierung, Ausbau von Knotenpunkten und Bahnhöfen hinkte die Reichsbahn also hinterher.

Und trotzdem muss man sagen: Die Reichsbahner und Reichsbahnerinnen haben es trotz dieser widrigen Umstände geschafft, einen geregelten Bahnbetrieb hinzukriegen. - Man muss ja in Rechnung stellen, dass es im Westen zum Beispiel den Marshallplan gab und damit relativ schnell relativ viel Geld, um Wiederaufbau und Modernisierung voranzutreiben - in der DDR gab es das nicht und trotzdem hat die Reichsbahn bis 1960 die Transportleistung in Transportkilometern gerechnet um 57 Prozent gesteigert. Das ist eine bedeutende Leistung, die man auch nicht vergessen darf.

Unser Gesprächspartner: Dr. Rainer Mertens

Dr. Rainer Mertens ist Historiker und stellvertretender Direktor des DB-Museums. Er ist 1987 als Mitglied der Popgruppe "Shiny Gnomes" und 1994 als Gründer und hauptamtlicher Mitarbeiter des Nürnberger "Instituts für Regionalgeschichte - Geschichte für Alle" mit dem Kulturförderpreis der Stadt Nürnberg ausgezeichnet worden. Mit uns spricht er über den Zustand und den Wiederaufbau der Bahn nach dem Zweiten Weltkrieg.

Das Interview wurde erstmalig im August 2020 veröffentlicht.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Exakt - Die Story: Stiefkind Schiene | 11. August 2021 | 20:45 Uhr

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