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Covid-19 und historische ParallelenHistorikerin zu Corona: Krise ohne Vergleich

28. März 2020, 05:00 Uhr

Kanzlerin Angela Merkel nannte die Corona-Krise die "größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg". Doch stimmt das wirklich? Welche Vergleiche mit anderen Krisen in der Geschichte können wir ziehen? Wo gibt es Parallelen, wo Unterschiede? Aus welchen Erfahrungen können wir lernen? Wir haben die Historikerin Silke Satjukow von der Universität Halle-Wittenberg dazu befragt.

Frau Satjukow, womit können wir die derzeitige Krise vergleichen?

Es gibt keinen Vergleich zu anderen Krisen. Das hat damit zu tun, dass wir in einer hochglobalisierten und medialisierten Welt leben. Das heißt, alle Menschen sind beteiligt und alle wissen auch darüber, weil wir moderne Medien nutzen können. Das war in früheren Zeiten nicht der Fall. Einzelne Phänomene der heutigen Krise gab es auch in anderen Krisen der Geschichte. Aber eine Krise, die so geballt auf uns einwirkt, mit so viel Wissen darüber, das gab es früher nicht. Diese Art von Krise heute hat ganz viele Gesichter und damit hat die Kanzlerin auch Recht, dass es eine ganz schwierige Krise ist.

Welche Facetten hat die aktuelle Corona-Krise?

Die aktuelle Krise hat verschiedene Dimensionen, zum Beispiel die politische: Werden wir unsere Demokratien im Westen trotz Coronavirus bewahren können? Wie sieht das aus mit den Diktatoren und Autokraten dieser Zeit, gewinnen sie nicht an Land? Wir haben einzelne Länder, wo man sieht, dass die Parlamente entmachtet werden. Wir haben auch hier in Deutschland Rufe nach Anführern, wir erklären Politiker, die immer gegen gemeinschaftliches Handeln und immer im Alleingang agieren, zu Helden unseres Alltags. Sie sind plötzlich die beliebtesten Figuren, obwohl sie sich gegen demokratische Gepflogenheiten wenden.

Wir haben auch wirtschaftliche Facetten, die Börse geht hoch und runter, es ist völlig unklar, wie sich das entwickeln wird. Sie sehen das an den Einzelhändlern in Mitteldeutschland, die Zettel an den Läden haben: "Wir müssen schließen, hoffentlich kommen wir zurück". Aber auch bei großen internationalen Firmen wissen wir nicht, was das für Dimensionen hat. Das Kulturelle, die Kleinkunst, der Puppenspieler tritt nicht mehr auf, die Schauspielerin hat keine Gagen, Kinos können nicht mehr aufführen, Filmemacher haben Filme, die keiner mehr anschaut.

Wichtig und bisher kaum besprochen sind die sozialpsychologischen Momente. Was heißt das eigentlich, mitmenschlich zu sein? National, kommunal, in der Familie oder weltweit? Und wie lang ist die Halbwertzeit von Mitmenschlichkeit und wann hört sie auf? Wann hören wir auf, solidarisch zu sein? Fragen, die wir noch nicht beantworten können. Und das allerschwierigste ist das Persönliche. Diese Krise, die häusliche Isolation, führt zu Einsamkeit, zu Vereinsamung, zu Depressionen, zu Alkoholismus. Häusliche Gewalt nimmt jetzt bereits zu, die Frauenhäuser schlagen jetzt schon Alarm, Kinder und hauptsächlich Frauen werden geschlagen, Suizide könnten zunehmen – das alles ist zu bedenken bei dieser Krise heute.

Was ist heute anders mit dem Coronavirus im Vergleich zu anderen Epidemien wie der Spanischen Grippe oder den Pocken, Malaria oder Polio? Gibt es neben all den negativen Aspekten auch etwas Positives?

Es gibt einen wesentlichen Unterschied zu den Krisen zuvor: Seit der Aufklärung, seit ungefähr 1800, wissen die Menschen, dass sie etwas tun können. Früher waren die Krisen von Gott gesendet, vom Teufel, von oben. Die Menschen wussten gar nicht, wo die Pest herkam oder die Cholera. Aber mit der Aufklärung und mit den Naturwissenschaften begannen die Menschen zu wissen, mit welchen Phänomen sie es zu tun hatten und sie begannen, etwas dagegen zu tun. Händewaschen, Hygiene also, ist so eine Erfindung.

Heute, im Medien-Zeitalter, haben wir so viele Informationen, dass wir begreifen können. Und so können wir die Risiken zu Chancen ummünzen. Wir können auf allen Gebieten etwas tun, diese Möglichkeit haben wir. Wir können solidarisch sein, das bedeutet ein unbedingtes Zusammenarbeiten bei solchen großen Krisen in der Welt. Aus all dem, all diesen Risiken, die die Krise auftut, entstehen ganz viele Chancen.

Können wir dieses Gefühl der Mitmenschlichkeit und Solidarität also konservieren und damit gestärkt aus der Krise hervorgehen?

Diese Mitmenschlichkeit ist nicht neu, sie speist sich aus ganz alten Ideen menschlicher Gemeinschaften, die kennen wir aus Geboten, Gesetzen, der Moral. Wir unterscheiden Gut und Böse und die Menschen wissen, was gut und was böse ist. Aber wir haben gleichzeitig auch einen Egoismus. Die Industrialisierung seit dem 19. Jahrhundert, der Kapitalismus, sagt: Geiz ist geil; was zählt, bin ich; ich und die Meinen sind am wichtigsten. Daraus folgt: Hamsterkäufe sind in Ordnung und sei es auch nur Toilettenpapier.

Diese zwei Modelle, das Gute und das Böse, findet man überall – in der Bibel, in der Thora, im Koran, sogar bei Harry Potter. Sie kämpfen miteinander und wir legen fest, wofür wir uns entscheiden. Also wir müssen sagen, wie wir in der Krise und nach der Krise zusammenleben wollen.

Diese Krise wird vorbeigehen. Aber danach wird man schauen, ob die Menschen noch solidarisch handeln. Ob die Politiker auch den kleinen Leuten Unterstützung gewähren, ob der Nachbar seinem Nachbarn auch danach noch hilft. Und es werden viele weitere Krisen kommen: Klima, Hunger, Dürre, sie stehen schon vor der Tür. Das bedeutet, dass wir die Solidarität dieser Krise nicht nur bewahren, sondern sie auch zukunftsfähig machen müssen. Wir müssen uns überlegen, welche dieser Koordinaten des miteinander Lebens wichtig sind und welche nicht. Ich bin davon überzeugt, dass diese kalten Koordinaten der Industrialisierung, der Einsamkeit und Isolation, die es schon lange vor der Krise gab, nicht tragfähig sind für eine Solidarität in der Zukunft. Wir müssen schauen, und das kann ich als Historikerin ganz gut, was hat über die Jahrhunderte getragen? Das sind eben diese mitmenschlichen Koordinaten. Und was hat nicht getragen? Diese Fragen müssen und können wir uns jetzt schon stellen, wir haben Zeit genug.

Welche Rolle spielt der Staat in der heutigen Krisensituation?

Im Moment gibt es eine Tendenz, dass wir sagen: "Der Staat muss handeln." Aber der Staat ist nur unser Instrument, der Staat tut nur, was wir wollen. Also wir müssen handeln, wir müssen den Staat beauftragen. Und damit meine ich nicht nur unseren nationalen Staat, sondern Europa, die Welt. Wir haben das in dieser Krise ja bestens gesehen, es trifft nicht den Einen, es trifft die gesamte Menschheit in dieser globalisierten Zeit. Momentan rufen wir allzu oft nach dem Staat, als wäre der irgendetwas da oben, das wir nicht im Griff haben. In Demokratien ist das aber nicht der Fall. In Demokratien haben wir den Staat im Griff. Das ändert sich nur, wenn wir uns entscheiden, zu Diktaturen zurückzukehren. Das ist der leichtere Weg, man kann sagen, der Führer, der da oben, der richtet das. Aber es ist der deutlich kindlichere Weg und er wird auch nicht zum Erfolg führen.

Neben der Solidarität und Nachbarschaftshilfe gibt es inzwischen auch abweichende Meinungen: So wenden sich Menschen dagegen, dass Kliniken in Sachsen Corona-Patienten aus Italien aufnehmen.  

Mitmenschlichkeit und nachbarschaftliche Hilfe oder Hilfe in Familien ist etwas Wunderbares. Solidarität ist etwas anderes, Solidarität ist eine bedingungslose Hilfe. Nicht nur, wenn es mir passt; nicht nur für einen Moment; nicht nur, wenn ich etwas davon habe. Solidarität ist ein gegenseitiges Helfen, weil wir aufeinander angewiesen sind. Sie wurde erfunden mit dem Denken, dass die Menschen nur überleben können, wenn sie zusammen überleben. Das fing in großen Gesellschaften an und heute in dieser globalen Welt sind wir an einem Punkt, an dem wir genau wissen, dass die Menschheit nur überleben kann, wenn sie solidarisch ist. Also ich muss nichts davon haben, dass man einem Menschen aus Spanien oder Italien hilft. Solidarität bedeutet, wir hängen alle auf Gedeih und Verderb zusammen und helfen uns bedingungslos.

Kurzfristige Hilfe ist prima, aber was wir brauchen, ist Solidarität, und das zeigt uns die Krise. Und das heißt, bedingungslos Menschen zu helfen, die es im Moment brauchen. Wer weiß denn, ob wir in Mitteldeutschland nicht auch irgendwann Solidarität brauchen von anderen? Und das ist der Gedanke – ich weiß es nicht und gebe deswegen bedingungslos Hilfe, anders wird die Menschheit nicht überleben.

Gibt es Werte, die sich historisch bewährt haben, um Krisen zu meistern? Und gibt es einen Zusammenhang mit fehlendem Mehl in den Regalen?

Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Menschen brauchen Sicherheit und sie haben ein paar Koordinaten in ihr Leben gestrickt. Dazu gehören Orte wie Kneipen, Schulen oder Vereine. Dazu gehören Menschen, unsere Freunde und Verwandte. Und Sicherheit bieten auch Rituale wie Gottesdienste oder Sport. Doch das fällt gerade alles weg, vor allem in der Stadt. Auf dem Land, in den Dörfern, dort haben sich andere Koordinaten bewahrt – die Jahreszeiten treiben beispielsweise die Menschen vor sich her. Der Frühling ist da, eine wunderbare Frühlingswoche im Moment, die Leute gehen in den Garten, beackern ihre Scholle. Manche haben Tiere, egal ob Haustiere oder Tiere im Stall. Der Sonnenaufgang und Sonnenuntergang werden wichtig, die Sonne überhaupt, die Leute nehmen sie jetzt wieder war. Das alles bietet Sicherheit.

Und auch, dass die Menschen Mehl kaufen und auch Hefe immer ausverkauft ist, hat etwas mit ihrem Sicherheitsgefühl zu tun. Das ist auch ein Wert, das Backen. Die Menschen wollen schnell eine umfassende Sicherheit bekommen in dieser Zeit der Unsicherheit. Und diese Sicherheit ist am größten, wenn sie alle Sinne umfasst. Das kennen wir aus der Kindheit, wenn wir riechen, schmecken und fühlen können. Und die Bäckereien sind die Paradiese unserer Kindheit und sind es auch heute noch. Wenn wir beim Bäcker sind, dann riechen, schmecken, fühlen wir die Backware. Es gibt nichts Schöneres. Und wenn man in der häuslichen Isolation ist, dann sucht man diese schnelle, alle Sinne umfassende Sicherheit von frisch gebackenem Brot, von Kuchen, zu bekommen. Das ist ein ganz legitimer Vorgang, absolut verständlich, in die Angst von heute ein bisschen Sicherheit reinzubringen sozusagen. Insofern ist Backen ein Krisenbewältigungsmechanismus.

BiografieProf. Dr. Silke Satjukow, geboren 1965 in Weimar, studierte von 1991 bis 1995 Geschichte, Germanistik, Philosophie, russische Sprache und Literatur in Moskau, Berlin, Erfurt und Jena. 2011 bis 2017: Professur für Geschichte der Neuzeit (19. - 21. Jahrhundert) an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Seit 2018 ist sie Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Silke Satjukow forscht zur Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zu Propaganda sowie zu Fremd- und Feindbildern.

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | 27. März 2020 | 19:30 Uhr