"Das Kapital" ist Geschichte

11. September 2017, 13:30 Uhr

Am 11. September 1867 erschien der erste Band des Hauptwerks von Karl Marx - "Das Kapital". Heute sind die Studien von Marx über die Lage der Arbeiter seiner Zeit und seine Analyse derselben nicht nur eine historische Quelle erster Güte. Auch seine Theorie kann noch anregend sein, sofern man sie nicht als abschließend ansieht. Den Mythos vom gesetzmäßigen Gang der Geschichte hat die Geschichte zwar zerstört; und so ist "Das Kapital" heute selbst Geschichte.

Im Januar 1990 zeichnete der Berliner Roland Beier eine der bekanntesten Karikaturen der Wendezeit: Marx mit den Händen in den Hosentaschen, der achselzuckend gesteht: "Tut mir leid Jungs! War halt nur so'ne Idee von mir ..."

Kaum ein Bild kann noch heute besser ausdrücken, wie nach 40 Jahren offiziellem Marxismus und dem Scheitern der DDR nicht nur in Ostdeutschland auf den angeblichen Vater all desssen geblickt wurde. Stimmig daran war, dass eben auch Marx nur eine Theorie hatte. Für die peinliche DDR-Planwirtschaft, also die Praxis, wurde er damals aber zu Unrecht verantwortlich gemacht.

Weitgehend einig sind sich Kritiker wie Verfechter des Marxismus heute auch, dass Marx und sein Werk nicht direkt auch für den Leninismus, für Stalin und Mao, für deren Terror und Millionen Tote verantwortlich ist oder für die undemokratische "Dikatur des Proletariats", für die real existierende staatliche Diktatur einer privilegierten Klasse von Funktionären.

Was mich betrifft, ich bin kein Marxist!

Karl Marx Briefe von Friedrich Engels an Eduard Bernstein, November 1882, und an Conrad Schmidt, im August 1890

Manches an seinen Ausführungen dürfte einer dogmatischen Sicht zwar Vorschub geleistet haben. Marx selbst aber war kein Dogmatiker. Schon in seinem Vorwort zur ersten Ausgabe des Kapitals spricht er einen Leser an, "der auch selbst denken" möchte. Nicht einmal für den späteren Marxismus dürfte Marx verantwortlich sein. Mit Blick auf eine noch zu seinen Lebzeiten gegründete marxistische Partei in Frankreich soll er, wie sein Freund Friedrich Engels später in Briefen schrieb, gesagt haben: "Was mich betrifft, ich bin kein Marxist!"

Dass viele seiner Leser nach der Marx-Lektüre ihr weiteres Denken einstellten oder viele seiner Parteigänger die oft sperrigen und schwer zu lesenden Werke gar nicht selbst gelesen oder verstanden haben, ist ihm kaum anzulasten.

Probleme bleiben aktuell - aber nicht alle Antworten

Tatsächlich hat Karl Marx, geboren am 5. Mai 1818 in Trier und gestorben am 14. März 1883 in London, mit "Das Kapital" ein Buch geschrieben, das wie nur wenige die Weltgeschichte beeinflusst hat und schon deshalb interessant ist.

Immer wieder wird daher bis heute nach der Aktualität von Marx gefragt. Nach der Wende in der DDR ging das Interesse etwas zurück, nach der Finanzkrise 2008 flammte es wieder auf. Eine große Serie zur Frage "Was uns Marx heute noch zu sagen hat" kommt vom Deutschlandfunk.

Selbst der des Marxismus völlig unverdächtige Ökonom Hans-Werner Sinn, lange Chef des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, findet Marx' Krisentheorie jetzt "hochaktuell".

Von einer neuen Marx-Renaissance kann zwar keine Rede sein, denn Marxisten hat es nach Marx immer gegeben. Augenfällig ist aber, dass Marx immer wieder neu gelesen werden kann. Für den Philosophie-Professor Andreas Arndt von der Humboldt-Universität Berlin muss zwar vieles, was im "Kapital" steht, überdacht oder sogar revidiert werden. Im Interview "Warum Marx immer noch aktuell ist" meint er jedoch, obwohl "der Mythos einer geschlossenen Weltanschauung in der Marx'schen Theorie" "zerbröckelt" sei, so sollte doch Marx' Werk auch heute weiterhin "zumindest als ein interessantes Angebot verstanden werden".

Seine "Gesetze" sind mit Vorsicht zu genießen

Konservativere Kritiker sehen Marx' "wissenschaftlichen Sozialismus" schon länger eher als "Theologie" denn als Theorie. So schrieb einer unter dem Titel "Was wirklich von Karl Marx übrig bleibt" zum 125. Todestag des Intellektuellen mit dem Prophetenbart im Jahr 2008: "Die Gewissheit, die Gesetze der Geschichte auf seiner Seite zu haben, ersetzt für den Marxisten die Gewissheit der Juden, Christen und Muslime, Gott auf ihrer Seite zu haben. So kann er den Zumutungen der Moderne trotzen, die alle Gewissheiten erschütterte." Und er kann dem Menschen nahezu alles zumuten - im Namen der Geschichte.

Demnach hätte also auch der Kirchenfeind Marx "Opium fürs Volk" angerührt, nur mit einer anderen Wirkung. Tatsächlich gibt es wohl keine sozialen Gesetze außerhalb konkreter sozialer Bedingungen, was bedeutet, dass etwas, das damals galt, heute nicht mehr gelten muss und was heute gilt, nicht gesetzmäßig auch in der Zukunft. Auch Marx meinte , dass "die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist." Dies macht verständlicher, warum der Klassenkampf dann doch anders ausging.

Und wie in dem oben zitierten Artikel nachzulesen ist, dürfte Marx selbst auch weit weniger staatsgläubig gewesen sein, als etwa jene, die sich in der DDR auf ihn beriefen und glaubten, mit ihm die ganze Wahrheit gepachtet zu haben.

Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung... ."

Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin (1870-1924) "Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus" von 1913

Zutreffender als viele seiner "Gesetze" und Vorhersagen war wohl die Prognose von Marx, dass der Kapitalismus zur Konzentration neigt. Auch hatte Marx schon im "Kommunistischen Manifest" von 1848 von der Globalisierung gesprochen:

Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen...

Karl Marx Das Kommunistische Manifest - 1848

Marx hatte wohl auch Recht darin, dass die Ursache für die miserable Lage der Arbeiter im 19. Jahrhundert in den Produktions- und Eigentumsverhältnissen lag und bis heute liegen kann, dass der Interessenkonflikt bei einer Verhärtung zum Kampf führen muss und dass Kämpfe um Eigentum kein Kinderspiel sind.

Es stimmt wohl auch, dass die seinerzeit aufgekommene soziale Frage eine Verteilungsfrage ist - wobei Marx eher die Verteilung der Produktionsmittel in den Fokus nahm, während heute eher die des Kapitals selbst debattiert wird - siehe etwa Thomas Piketty: "Das Kapital im 21. Jahrhundert".

Überzogen hat Marx sicherlich mit vielen seiner Prognosen und mit der Behauptung der Naturgesetzlichkeit seiner Thesen. Verübeln kann man ihm das allerdings nicht. Spätestens nach dem Erscheinen von Darwins Evolutionstheorie im Jahr 1864 war das 19. Jahrhundert berauscht von Technik und Naturgesetzen und der vermeintlichen Erkennbarkeit aller Dinge; und die von Marx mit ermöglichte "Kritische Theorie" war noch lange nicht in Sicht.

Die Gewissensfrage der Industriealisierung

So sah Marx nur Zwänge, keine frei handelnden Subjekte, denn er hatte die damaligen Arbeiter vor Augen. Sein Ziel war es zu beweisen, dass sie es sind, die Wert schaffen, den Kapitalisten sich in ungerechtfertigter Höhe aneignen. Er wollte die Position der Besitzlosen stärken. Was er nicht vor Augen hatte, waren doch etwas freiere Arbeiter in einer kapitalistischen Demokratie.

Was er damit aber auch in moralischer Hinsicht tat, ist von bleibendem Wert: Denn er hat dem Bürgertum die Gewissenfrage seiner bürgerlichen industriellen Revolution gestellt und den Finger in eine damals klaffende und bis heute nicht geschlossene Wunde gelegt.

Denn schon damals ließ sich nicht rechtfertigen, dass der besitzende Bürger, der sich in seinem sozialen Optimismus auf die hohen Ideale der französischen Revolution berief (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), eben nicht versuchte, diese zu realisieren. Stattdessen ersetzten nun Kapital besitzende Bürger die Unterdrückung und Ausbeutung durch den Adel durch ihre eigene Ausbeutung der Arbeiter; und weiter blieb so die große Mehrheit der Menschen vom gemeinsam geschaffenen Wohlstand doch ausgeschlossen.

Keine Schuld an der Planwirtschaft

Für die "Düsseldorfer Zeitung" hatte Engels im November 1867 über "Das Kapital" geschrieben: "Wir sagen nicht, dass sich gegen die Deduktionen des Buches nichts einwenden ließe oder dass Marx seinen Beweis vollständig erbracht habe. Wir sagen bloß: Wir glauben nicht, dass sich unter sämtlichen Nationalökonomen einer finden werde, der imstande ist, sie zu widerlegen."

Nun, das hat sich inzwischen geändert. Dass Marx aber widerlegt worden wäre durch das Scheitern von Planwirtschaften wie etwa in der DDR oder heutzutage in Venezuela, stimmt nicht. Eine konkrete Wirtschaftspolitik ist aus seinem Werk nicht ableitbar. Auch hat er nie ernsthafter behauptet, dass der Wirtschaftsprozess allein und am besten durch staatliche Stellen geleitet werden würde.

Allerdings dürfte sein beißender Spott über die "unsichtbare Hand" von Adam Smith, in dessen Werk von 1776 über den "Wohlstand der Nationen" eine Metapher für wirkende Kräfte, dazu beigetragen haben, diesen Eindruck zu erwecken. Seine Frontstellung gegenüber der liberalen Grundidee der Selbstregulierung der Märkte durch Wettbewerb hat die Jünger von Marx wohl in den blinden Glauben geführt, man müsse einfach alles nur anders herum machen, ohne freie Menschen und im Vertrauen, das alles lasse sich überschauen, sinnvoll steuern und sogar berechnen.

So musssten denn dogmatische Marxisten, die sich sklavisch an dem Papier festgehalten haben, auf dem "Das Kapital" gedruckt wurde, scheitern. Weil sie den Kopf nicht mehr gehoben haben, um in die Wirklichkeit zu schauen, wie Marx es getan hatte. Ihre Versuche, die zyklischen Krisen des Kapitalismus mit ihm zu überwinden, haben so immer nur in die wirtschaftliche Dauerkrise geführt.

Was bleibt - ein schillernder Begriff

Zum 125. Todestag hatte Robert Misik ("Marx für Eilige") geschrieben, dieser Denker habe "nicht so sehr 'die Kapitalisten' angeklagt, sondern theoretisch begreifen wollen, wie ein hochkomplexes System funktioniert." Tatsächlich ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil herausgekommen. Denn mit Marx allein lässt sich dieses hochkomplexe und bisweilen chaotische System doch nur unzureichend verstehen. Ein bleibendes Marx-Vermächtnis liegt so vielleicht auch weniger im Verständnis der Wirtschaft als darin, uns den Begriff "Kapitalismus" gegeben zu haben - einen Begriff, der heute ganz unterschiedlich aufgeladen werden und für vieles stehen kann, das uns an unserem Wirtschaftsleben stört.

Eine Lehre aus der Geschichte ist aber auf jeden Fall: Man darf Marx nicht 1:1 nehmen und "Das Kapital" nicht als Verkündigung. Würde der kritische Denker heute noch leben, würde er sicher - sofern er im Alter von 199 Jahren nicht senil wäre, vielmehr noch schlauer als damals - uns etwas ganz anderes vorschlagen.

Über dieses Thema berichtete MDR-Dok: Karl Marx - Staatsfeind Nr. 1 So, 06.05.2018 | 22:05 Uhr