Amalie Dietrich. Eine ernst blickende Frau. 19. Jahrhundert
Zähigkeit, Entschlossenheit und genauem Beobachten verdankt Amalie Dietrich ihre Forscherkarriere. Bildrechte: Amalie Dietrich Gedenkstätte Siebenlehn/Matthias Lütkemeier

Amalie Dietrich Eine Forscherin aus Sachsen ignoriert gesellschaftliche Konventionen

22. Januar 2023, 05:00 Uhr

Sie sammelt mehr Material auf ihren Reisen als Alexander von Humboldt oder Charles Darwin - Amalie Dietrich. Die Frau aus Siebenlehn entdeckt in Australien 640 neue Arten, bringt aber auch menschliche Überreste nach Deutschland, um die Evolutionstheorie zu beweisen. Das macht sie heute zu einer umstrittenen Persönlichkeit.

Schon sein Name strotzt vor Selbstbewusstsein:  Johan Cesar VI. Godeffroy, genannt "König der Südsee". Der Hamburger Reeder schmeißt die ärmlich gekleidete Frau, die ihn um einen Reiseauftrag nach Australien bittet, gleich wieder aus dem Kontor. Doch Amalie Dietrich ist es gewöhnt, niemals aufzugeben.

Besser ein schweres Leben als ein leeres Leben.

Amalie Dietrich

Von Siebenlehn nach Australien

Geboren 1821 im sächsischen Siebenlehn, wächst Amalie in kargen Verhältnissen auf, geht nur vier Jahre in die Schule. Als sie den Apotheker und leidenschaftlichen Pflanzensammler Wilhelm Dietrich kennenlernt, findet sie ihre Berufung: Herbarien anzulegen und zu verkaufen. Bald geht Amalie Dietrich allein auf die Pflanzensuche, dem Herrn Gemahl wird es zu anstrengend. Die 1848 geborene Tochter Charitas gibt sie während der mehrmonatigen Expeditionen zu Pflegefamilien. Zu Fuß wandert sie durch ganz Mitteldeutschland. Bis nach Krakau, Bukarest und Salzburg führt sie die Jagd nach Pflanzen, Insekten und Schmetterlingen.

1863 verlässt Amalie Sachsen, geht nach Hamburg, wo Reeder Godeffroy ein Südsee-Museum plant. Seine Schiffe bringen Auswanderer nach Australien und kommen schwer beladen mit Kobra, dem Fleisch der Kokosnüsse, aber auch Pflanzen und Tieren zurück. Mit Empfehlungsschreiben namhafter Botaniker spricht Amalie Dietrich ein zweites Mal bei Godeffroy vor und bekommt den ersehnten Forschungsauftrag.

Orchideen, Seeigel und Schädel - Amalie Dietrich sammelt alles

Tochter Charitas wird wieder weggegeben und Amalie reist für zehn Jahre an die australische Ostküste und schwärmt über die exotische Welt:

Alle diese Naturwunder, ob es nun unscheinbare Moose, Nacktschnecken, Spinnen und Tausendfüßer oder Gerätschaften, Schädel und Skelette der Eingeborenen sind.

Amalie Dietrich

Kistenweise schickt Amalie Dietrich Moose, Farne, Algen, Orchideen, Seeigel, Schnabeltiere und Vögel nach Hamburg. Es ist die größte je von einer einzelnen Person zusammengetragene Sammlung. In Deutschland kommen die Forscher mit dem Bestimmen kaum hinterher. 640 unbekannte Arten finden sie in den Gläsern, Pappschachteln, Herbarien, die Amalie vom Fünften Kontinent schickt. Heute sind ihre Funde wichtige Zeugnisse der ursprünglichen Fauna und Flora der australischen Ostküste und dienen als Referenz für Renaturierungsprojekte.

"Angel of black death" – Ist Amalie Dietrich der Todesengel der Aborigines?

Acht Skelette und zwei Schädel von Aborigines besorgt sie auf ausdrücklichem Wunsch von Rudolf Virchow. Deutschlands berühmtester Mediziner will Darwins Evolutionstheorie überprüfen. Das fehlende Bindeglied zwischen Menschenaffen und Homo sapiens vermuten viele Wissenschaftler damals in Australien.

Die Anatomen und Forscher haben sich einen Wettbewerb geliefert, wer die seltensten Belegstücke hat und Virchow hatte das Geld, er hatte den Einfluss und die Kontakte, um seine Sammlung mit solchen Raritäten zu bereichern.

Birgit Scheps-Bretschneider, Museum für Völkerkunde Leipzig

Doch wie kommt Amalie Dietrich an die Gebeine? Sie selbst berichtet nichts. 120 Jahre später erhebt eine australische Historikerin den Vorwurf, sie habe Aborigines ermorden lassen.

Amalie Dietrich 35 min
Bildrechte: Amalie Dietrich Gedenkstätte Siebenlehn/Matthias Lütkemeier

Birgit Scheps-Bretschneider geht 2007 in Australien den Mordvorwürfen nach und hält sie für widerlegt. Das Morden übernehmen die weißen Siedler, die die Aborigines zu tausenden straffrei abschlachten, um sich ihr Land anzueignen. Amalie kauft die Skelette von sogenannten „Bone Hunter“, Knochenjägern.

Das ist die dunkle Seite der Tätigkeit von Amalie Dietrich.

Birgit Scheps-Bretschneider, Völkerkundemuseum Leipzig

Die Knochen gelangen nach der Begutachtung durch Virchow ins Leipziger Völkerkundemuseum, wo sie beim großen Luftangriff auf Leipzig verbrennen. Auch die Pflanzen- und Tiersammlung wird in alle Winde zerstreut. Godeffroys Museum geht sechs Jahre nach Amalie Dietrichs Rückkehr 1873 pleite und wird verkauft. Amalie Dietrich lebt wie in ihrer Siebenlehner Kindheit wieder in bescheidenen Verhältnissen bis zu ihrem Tod 1891 in Rendsburg.

Die Tochter schreibt die Mutter berühmt

1909 erscheint ein Buch: “Amalie Dietrich Ein Leben“. Verfasst von ihrer Tochter Charitas Bischoff. Ein Best- und Longseller. Bis heute immer wieder aufgelegt, prägt er das Bild der Siebenlehner Naturforscherin als einer unerschrockenen Frau, die gesellschaftliche Konventionen ignoriert und sich über alle Widrigkeiten hinwegsetzt. Auch über ihre ethischen Skrupel, menschliche Gebeine zu besorgen.

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