Interview"Der Geist des Festivals war das eigentlich Kostbare"
Die promovierte Slawistin Christiane Mückenberger arbeitete bis 1962 am Institut für Slawistik an der Akademie der Wissenschaften, dann lehrte sie an der HFF Potsdam-Babelsberg Filmgeschichte. 1966, nach dem 11. Plenum, fristlos entlassen, kehrte sie 1975 an HFF zurück. Ab 1982 war sie freiberuflich Koautorin von Dokfilmen. 1990 bis 1993 leitete sie das Leipziger Festival.
Wie sah Ihre erste Begegnung mit dem Dokfilmfestival Leipzig aus? Wann war das?
Das war 1963 nach meinem Wechsel vom Slawischen Institut der Akademie der Wissenschaften (wo ich mich mit russischer Literatur des 19. Jahrhunderts befasste) an die Filmhochschule. Ich wusste so gut wie nichts vom Dokumentarfilm, und traf unvorbereitet auf Filme wie "Der schöne Mai" von Chris Marker, "Requiem für 500.000" von Jerzy Bossak oder "Die Quelle" von Tadeusz Jaworski, Filme, an die ich mich heute noch genau erinnern kann und die mich mit der ungewöhnlichen Spannweite der Themen, der Möglichkeiten des Herangehens und der ästhetischen Mittel geradezu überfielen. Es war ein Erlebnis, das mich für die Zukunft ans Festival band.
Welches Jahr war das beste Festivaljahr für Sie? Warum?
Ich kann nur sagen, welches für mich das schönste Festival war, was mit einem Urteil über das beste, also über Qualitätsmerkmale nichts zu tun hat, sondern nur mit meinem ganz persönlichen "Glücksgefühl". Das war 1970, als ich nach vierjähriger verordneter Abstinenz das Festival wieder besuchen durfte. Ich war geradezu süchtig und sah (einschließlich Retrospektive) 101 Film, mit dem Effekt, dass ich keinen mehr im Gedächtnis habe. Aber der Gesamteindruck! Die durchwachten Nächte in der Halle des Hotels "Stadt Leipzig" oder in der "Astoria"-Bar bei kubanischen Rhythmen...
Welches Jahr war das schlechteste Festivaljahr für Sie? Warum?
Das war das Festival 1983, als die stillen Protestierer am Eröffnungstag vor dem "Capitol" mit Kerzen auf sich aufmerksam machten und auf beschämend grobe Weise "abgeschoben" wurden. Es gab erregte Diskussionen, wie man sich verhalten müsse. Ich hatte den Vorfall zwar nicht selbst erlebt, aber so genau geschildert bekommen, dass ich genau informiert war und hätte handeln müssen. Keiner von uns allen ist abgereist (und alle sind nächstes Jahr auch wiedergekommen). Die bedrückte Stimmung damals war nicht nur dem geschilderten Vorfall geschuldet, sondern auch dem eigenen Verhalten. Man fühlte sich nicht wohl in seiner Haut.
Was war oder ist das Besondere am Leipziger Festival?
Das Leipziger Festival war wohl der bedeutendste Treffpunkt des internationalen Dokumentarfilms mit sozialem Engagement. Für die Gründerväter des Metiers war es "ihr Festival". So wurde es zu einer einmaligen Begegnungsstätte der Generationen. Hier spürten Filmemacher aus allen "drei Welten" Unterstützung, Ermutigung, Solidarität und das ungewöhnliche Interesse eines fachkundigen Publikums. Zu der unerfreulichen Besonderheit des Festivals gehörte es aber auch, dass es nicht imstande war, mit der gleichen Empfindsamkeit, wie es auf andere Gebiete der Erde zutraf, auch im sozialistischen Lager die Wahrheit ans Licht zu holen und für Recht und Gerechtigkeit einzutreten. Es konnte nicht ehrlicher sein als die Politik jener Länder.
Was, glauben Sie, war Ihr wichtigster Erfolg als Festivaldirektorin?
In der Wendezeit gemeinsam mit einem großartigen Team von Mitarbeitern und der Unterstützung von Filmemachern aus aller Welt die gefährdete Existenz des Festivals gesichert, den höchst komplizierten Übergang in völlig neue gesellschaftliche Verhältnisse geschafft und vor allem den Geist des Festivals, dem es seine Weltgeltung verdankt, bewahrt zu haben. Gerade dieser war das eigentlich Kostbare an dem Erbe und auch das Problematische, weil sich automatisch die Frage nach dem Verdienst des Erblassers aufdrängte, und das war nicht en vogue.
Nennen Sie bitte drei Filme, die in den vergangenen fünf Jahrzehnten in Leipzig gelaufen sind, die aus Ihrer Sicht heute noch Bestand haben. Wodurch?
Die Frage kann man eigentlich kaum seriös beantworten. Ich versuch's trotzdem. "Der gewöhnliche Faschismus" (Michail Romm, UdSSR 1965). Er war damals schon nicht nur retrospektiv gemeint. Eine Einstellung, die Romms Methode und Absicht nicht besser verdeutlichen kann, zeigt einen Nazi-Würdenträger beim ersten Spatenstich für einen Autobahnabschnitt. Nicht der Mann im Scheinwerferlicht interessiert Romm, sondern der "kleine Mann" hinter ihm, der mit beseelt ergebenem Gesichtsausdruck untertänig jede Bewegung des Vertreters der Macht nachvollzieht und dabei vor Begeisterung fast aus den Stiefeln kippt. Was einen ängstigte, war gerade das Unspektakuläre, Alltägliche dieses Verhaltens, das nicht nur im Faschismus menschliches Verhalten deformierte. Romms Warnung ist heute genauso beunruhigend wie damals.
"Ziegeleiarbeiter" (Marta Rodriguez, Kolumbien 1974) zeigt für den Betrachter kaum erträgliche Bilder quälender Schinderei. Für die Betroffenen, vor allem Kinder, aber ist es ihr ganz "normaler" Alltag. Ein erregender Vorgang ganz unspektakulär geschildert. Ein hoher Himmel, schmale Pfade an steilen Abhängen, der monotone Rhythmus der Arbeitsgänge, Gesichter, gebeugte rücken. Der film hätte noch heute in vergleichbaren Ländern als aktuelle Situationsbeschreibung aufrüttelnde Wirkung.
"Verriegelte Zeit" (Sybille Schönemann, BRD 1990) ist die Geschichte der Regisseurin, die an unserer Filmhochschule studiert hatte, im DEFA-Studio für Spielfilme angestellt, bald aus politischen Gründen inhaftiert und nach knapp zwei Jahren von der BRD freigekauft worden ist. Sofort nach der Wende drehte sie im (Noch-)DEFA-Dokumentarfilmstudio diesen Film. Mit ehemaligen Studienkollegen (Kamera. Thomas Plenert) begibt sie sich auf Spurensuche, auf die Suche nach Spuren der Einsicht, der Scham, der Selbstbefragung bei ihren damaligen Kontrahenten. Er wirkt wie ein Aufschrei und ist doch ein ganz leiser, behutsamer film, nachdenklich und traurig. Er bewegt einen noch heute über dieses schicksal hinaus, weil er auch darüber reflektiert, wie eine große Idee, die Hoffnung auf Anstand und Menschlichkeit zerstört worden ist.
Lassen sie mich unbedingt noch "Musikanten" (Kazimierz Karabasz, Polen 1960) hinzufügen, den ich später in einer Retrospektive gesehen habe. Alte Männer, Straßenbahner, proben Woche für Woche im Depot mit ihren Blasinstrumenten. Ihr betagter "Kapellmeister" achtet auf Präzision, als stünde der große Auftritt bevor. Aber eigentlich geht es nur um die Freude am Musizieren und ums Zusammensein. Für unsere Dokumentaristen hatte der Film damals in Zeiten schwer erträglicher ästhetischer Verirrungen in der DDR-Kulturpolitik befreiende Wirkung. Ein junger Regisseur sagte damals auf einer internen Auswertung des Festivals 1960, auf dem Karabaszs Film den großen Preis erhalten hatte:
Bei uns ist so ein Film im Prinzip natürlich auch möglich. Man hätte nur gewisse Veränderungen verlangt: warum nehmt ihr denn so alte Menschen? Der Jugend gehört die Zukunft! Also eigent sich eine Pioniergruppe doch bedeutend besser. Und was sollen diese altmodischen Blasinstrumente? Ein Fanfarenzug ist doch viel wirkungsvoller. Und dieser triste Raum... Haben wir nicht neuerbaute Kulturhäuser? Und vor allem: Was ist der Sinn und Zweck dieser Proben? Sie spielen einfach so vor sich hin. Es muss doch einen gesellschaftlichen Nutzen bringen! Also: Ein Fanfarenzug junger Pioniere probt zu Ehren des V. Parteitages. So wäre der Film bei uns auf die Leinwand gekommen."
Junger Regisseur bei einer Festivalauswertung 1960 | Christiane Mückenberger
Karabasz ging an seinen Stoff "ohne These". Er hatte bloß "die Beobachtung von Emotionen im Auge", lernte "die Wertschätzung von menschlichen Bewegungen, von Nuancen, Spannungen, die das wirkliche Bild des Lebens ausmachen ...". Diese Methode scheint mir auch heute, in Zeiten der Sucht nach spektakulärer Aktion und Event geradezu ein Lehrbeispiel, das sich jeder anschauen sollte, der Dokumentarfilme machen will.
Wird es den Dokumentarfilm auch in fünfzig Jahren noch geben? Wenn ja, wie müsste er aussehen?
Dass es ihn in 50 Jahren noch geben wird, glaube ich schon, zu fragen ist, welchen Stellenwert er haben kann. Wie wird die Platzierung im Kino und Fernsehen sein? Wie hoch sind die Fördermittel, wen es in Zukunft noch rabiater um Einschalt- bzw. Besucherquoten gehen wird. Das hängt also nicht allein vom Dokfilm ab, sondern vom gesellschaftlichen Klima, das Verlangen nach Dokumentarischem fördern oder ausgrenzen kann, davon welche Wertvorstellungen die Medien vermitteln und wie sie ihre Aufgabe und Verantwortung sehen. Neue technische Möglichkeiten der Verbreitung sind natürlich auch zu bedenken. Auf jeden Fall hoffe ich, dass unser Festival seinen 100. gebührend feiern kann – und das nicht nur mit Retrospektiven.