Auf den Spuren von Moritz Schreber

13. Februar 2020, 11:57 Uhr

Körperliche Züchtigung gilt Ende des 19. Jahrhunderts als probates Mittel der Erziehung. Moritz Schreber glaubt eher an mechanische Hilfen zur Formung aufrechter Menschen.

Der etwas kränkliche Sohn eines kleinen Advokaten, geboren am 15. Oktober 1808, wächst in Leipzig auf. Die Messestadt erlebt in den kommenden Jahrzehnten einen Boom. Unter großen Entbehrungen absolviert Moritz Schreber in Leipzig sein Medizinstudium. Mit täglichen Turnübungen stählt er sich, durch großen Fleiß schafft er es zum Doktor. Die Heirat mit der ebenfalls in Leipzig geborenen Pauline Haase im Jahre 1838 - ihr Vater W. A. Haase war Professor der Medizin an der Leipziger Universität und auch eine Zeit lang ihr Rektor - verschafft Moritz Schreber Zutritt in die höheren Kreise der Leipziger Gesellschaft. Das Paar bekommt fünf Kinder: zwei Söhne, die es später zu trauriger Berühmtheit bringen, und drei Töchter.

Vom kleinen Advokatensohn zum erfolgreichen Mediziner

Zunächst scheitert Schrebers Versuch, eine Kinderheilanstalt in Leipzig zu errichten, doch 1844 übernimmt er die orthopädische Heilanstalt von E. A. Carus, modernisiert und nach seinen Vorstellungen eingerichtet, eröffnet er sie im Juni 1847. Zu diesem Zweck ließ er eigens in der Zeitzer Strasse ein neues Haus bauen, in dem sich nun die Anstalt und auch die Wohnräume der Familie befinden.

Mechanische Erziehungshilfen und Askese

Als Vorsitzender des Leipziger Turnvereins kann er seine Ideen von der Körperertüchtigung auch in der "besseren Gesellschaft" der Stadt popularisieren. Seine Heilanstalt wird ein lukratives Unternehmen. Moritz Schreber tüftelt an heute merkwürdig scheinenden orthopädischen Apparaturen. Schrebers Söhne müssen zur Erprobung herhalten. Auch darüber hinaus bestimmt das Turnen und eine asketische Lebensweise den Alltag der Familie. Von Prügelstrafen hält Schreber nichts, gestraft wird eher durch Liebesentzug. Die Mutter unterstützt die Ideen ihres Mannes.

Ein Unfall verändert alles

Im Jahre 1851 erleidet Moritz Schreber in der Turnhalle seiner Anstalt einen Unfall. Es wird vermutet, dass ein Nervenleiden dadurch wieder ausbricht. Depressionen und Wahnvorstellungen plagen ihn. Er bezieht eine separate Wohnung im Haus, bricht weitestgehend alle sozialen Kontakte ab und widmet sich nun ausschließlich seiner literarischen Arbeit. Mit eisernem Willen arbeitet er weiter daran, ein umfassendes Erziehungssystem zu schaffen: mit seiner "Kallipädie.

Am 10. November 1861 stirbt Moritz Schreber im Alter von nur 53 Jahren an den Folgen einer banalen Blinddarmentzündung. Drei Jahre nach seinem Tod gründet sich in Leipzig ein Verein, der seine pädagogischen Ideen verbreiten will. Als erste Maßnahme entsteht ein Turn- und Spielplatz in der Westvorstadt.

Das Bild vom Gartenpaten hält sich bis heute, doch auch der neueren, negativen These vom Kinderschreck widersprechen einige Experten, die in Moritz Schreber einen Begründer der systematischen Heilgymnastik in Deutschland und einen Wegbereiter der heutigen Hilfe für Körperbehinderte sehen. Erklärt wird sein rigides Insistieren auf Maßnahmen zur Körperertüchtigung von Biografen auch mit seiner Angst, dem Wahnsinn anheim zu fallen.

Das Schicksal der Schreber-Söhne

Das Schicksal der beiden Schreber-Söhne wird immer wieder als Beweis für das misslungene Erziehungssystem des Vaters angeführt. Der ältere - Gustav - nimmt sich im Alter von 38 Jahren durch einen Kopfschuss das Leben. Sein Bruder Paul geht als klassischer Fall für Paranoia in die Psychoanalyse ein. Sigmund Freud persönlich beschäftigte sich mit ihm.

Gustav Schreber studiert zunächst Chemie in Heidelberg und Göttingen, versucht sich als Unternehmer und kehrt schließlich fünf Jahre nach dem Tod des Vaters desillusioniert und krank in die Obhut der Mutter nach Leipzig zurück. Am 8. Mai 1877 erschießt er sich. Über die Umstände wurde wenig bekannt, Schreber-Biografen sprechen von einer möglichen Syphilis-Erkrankung oder nehmen an, dass der Schatten des übermächtigen Vaters zum Selbstmord führte.

Der jüngere Sohn Schrebers, Paul, studiert erfolgreich Jura an der Leipziger Universität und promoviert 1869. Zwei Mal muss er seine Laufbahn unterbrechen, weil er wegen Hypochondrie und Paranoia in psychiatrischen Anstalten behandelt wird. Die erste Erkrankung kommt nach einer erfolglos verlaufenen Kandidatur für den Reichstag. Hiervon erholt er sich relativ schnell wieder und setzt seine juristische Laufbahn erfolgreich fort. Das zweite Mal erkrankt er kurze Zeit nach seiner Ernennung zum Senatspräsidenten am Sächsischen Oberlandesgericht Dresden. Unmittelbar danach kommt der psychische Zusammenbruch. Fast den ganzen Rest seines Lebens verbringt Paul Schreber in unterschiedlichen Irrenanstalten.

"Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken"

Aus dieser Zeit stammt auch Paul Schrebers autobiografisches Werk, die "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken". Darin beschreibt er seine traumatischen Erfahrungen in den Irrenanstalten. Er gibt genaueste Schilderungen seines Krankheitszustands und des Gefühls, als Patient dem Arzt ausgeliefert zu sein. Paul Schreber selbst führt seine Krankheit auf Überanstrengung zurück und wehrt sich vehement dagegen, als geisteskrank zu gelten. Gleichwohl schildert er seine Wahnvorstellungen minutiös, dazu gehört es für ihn , sich mit dem "Gedanken der Verwandlung in ein Weib zu befreunden", worauf die "eine Befruchtung durch göttliche Strahlung zum Zwecke der Erschaffung neuer Menschen" folgen würde. Am Karfreitag 1911 stirbt Paul Schreber in der Heilanstalt Leipzig-Dösen.

(zuerst veröffentlicht am 13.09.2007)

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: Geschichte Mitteldeutschlands - Das Magazin: Jubiläumsfund: Leipzigs ältester Schrebergarten-Film | 16.09.2014 | 21:15 Uhr

Geschichte Mitteldeutschlands: Moritz Schreber | 04.11.2007 | 20:15 Uhr