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Operationssaal in der Berliner Charité (ca. 1935) Bildrechte: imago images / United Archives

Ärzte zwischen hippokratischem Eid und NS-IdeologieDie Charité im Dritten Reich

21. Februar 2024, 17:34 Uhr

Ferdinand Sauerbruch ist der berühmteste Chirurg seiner Zeit. Unter seinem Skalpell sind alle gleich, egal ob Jude oder SS-Mitglied. Gleichzeitig ist er glühender Nationalist, genehmigt Experimente an KZ-Häftlingen. Eine Ambivalenz, die sinnbildlich für die Geschichte der gesamten Charité im Dritten Reich ist.

von Elisabeth Lehmann

Ein Operationssaal in der Charité. Auf dem Tisch ein Mensch mit geöffnetem Brustkorb, umringt von Schwestern, die dem Chirurgen assistieren. Professor Ferdinand Sauerbruch führt das Skalpell. Die Decke des Saals ist aus Glas. Von oben schauen Medizinstudenten den Künsten des Meisters zu. Werner Podszus erinnert sich an viele solcher Lehroperationen bei Sauerbruch: "Er machte Schnitte wie ein Künstler. Er warf die Instrumente den Schwestern entgegen. Bis auf die Messer. Die legte er ab. Aber alles andere mussten sie auffangen."

Ferdinand Sauerbruch und der Nationalsozialismus

Als Sauerbruch 1927 an die Berliner Charité berufen wird, gilt er bereits als der beste Chirurg seiner Zeit. Er ist das Aushängeschild der Charité und ein glühender Nationalist. Als Adolf Hitler 1933 an die Macht kommt, hält Sauerbruch eine Rede im Rundfunk: "Heute gibt es keinen Deutschen, der sich nicht ernst und verantwortungsbewusst fragen muss: Wie stehe ich zum neuen Staat? Was hat er für uns getan und was muss ich für ihn leisten?"

An seiner Überzeugung als Arzt, alle und jeden zu behandeln, ändert diese Einstellung allerdings nichts. Ob Juden, Nazis oder Kommunisten – unter Sauerbruchs Skalpell sind alle gleich. Er rettet sie alle.

Alle jüdischen Ärzte müssen die Charité verlassen

So ambivalent wie Sauerbruch ist die gesamte Geschichte der Charité im Nationalsozialismus. Am 28. März 1933 werden alle Professoren auf das Klinikgelände im Zentrum Berlins bestellt. Der Pharmakologe Wolfgang Heubner schreibt damals in sein Tagebuch: "Es wird empfohlen, alle jüdischen Angestellten zu kündigen, sonstige jüdische Institutionsinsassen zu beurlauben. Je nach Handlungsweisen der Direktoren würde deren 'nationale Zuverlässigkeit' eingeschätzt. Entlassung ohne Pension ist jederzeit möglich."

Als einer von Heubners Mitarbeitern, der Pharmakologe Otto Krayer, nach Düsseldorf berufen wird, weil dort ein nicht-arischer Arzt entlassen wurde, lehnt dieser ab. Krayer schreibt: "Der Hauptgrund meines Zögerns war, dass ich die Ausschaltung der jüdischen Wissenschaftler als ein Unrecht empfinde, dessen Notwendigkeit ich nicht einsehen kann." Heubner kommentiert Krayers Haltung mit einem Wort: "Großartig!"

"Wolfgang Heubner unterscheidet sich von Anfang an darin, dass er der Überzeugung ist, dass eine liberale Gesinnung notwendig ist, um als Wissenschaftler tätig zu sein", sagt Medizinhistoriker Udo Schagen. Öffentlich Protest gegen die Entlassung jüdischer Ärzte aber legt Heubner nicht ein.

Medizinstudenten bei einer Vorlesung von Ferdinand Sauerbruch im Hörsaal der Charité (1935) Bildrechte: imago images / United Archives

Uniform mit Hakenkreuz, darüber der weiße Arzt-Kittel

Auch der Chirurg Sauerbruch sieht nicht ein, warum er jüdische Ärzte entlassen soll. Rudolf Nissen ist der beste Oberarzt an Sauerbruchs Fakultät – und jüdischer Abstammung. Sauerbruch will ihn unbedingt halten, doch Nissen will nicht in diesem Deutschland bleiben. Sauerbruch vermittelt ihm eine Anstellung in Istanbul.

Sauerbruch operiert weiter Juden, protestiert anfangs gegen die Euthanasie-Politik, die von der Charité aus koordiniert werden soll. Gleichzeitig umgibt er sich mit der Führung der NSDAP, wird 1942 sogar zum Generalarzt befördert, trägt unter seinem Kittel eine Uniform, am Revers ein Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern, in dessen Mitte das Hakenkreuz prangt.

Wusste Sauerbruch von Menschenversuchen in den KZs?

Er ist der höchste deutsche Mediziner im Reichsforschungsrat. Als Gutachter entscheidet er über alle Forschungsanträge in der Medizin – und winkt so gut wie alle durch, selbst die, bei denen es um medizinische Versuche an KZ-Häftlingen geht. "Er sagt, als praktischer Arzt behandle ich alle, und als Wissenschaftler ermögliche ich alles. Er war der oberste Forschungsgutachter. Er weiß sehr wahrscheinlich von den verbrecherischen Menschenversuchen in den Konzentrationslagern", erklärt Thomas Schnalke, Direktor des Charité-Museums, Sauerbruchs Verhalten.

Ferdinand Sauerbruch mit Medizinstudenten im Hörsaal der Charité (1935) Bildrechte: imago images / United Archives

Anatomie der Charité bekommt Leichen von Hingerichteten

Zynisch, aber wahr: Für die Forschung ist der Zweite Weltkrieg ein Glücksfall. In der Anatomie der Charité darf schon immer mit Leichen von Hingerichteten gearbeitet werden. In der Zeit des Nationalsozialismus verhängt der Volksgerichtshof aber Todesstrafen fast wie am Fließband. "Dadurch erhält das Institut einen Werkstoff, den kein anderes Institut der Welt besitzt. Ich bin verpflichtet, diesen Werkstoff entsprechend zu bearbeiten", schreibt der Anatom Hermann Stieve damals. Werner Podszus war Student in Stieves Präparier-Kurs: "Manchmal sind Leichen ohne Kopf gekommen. Solche wurden uns also auch geliefert. Wir haben uns natürlich gefragt, woher die kommen." Offen angesprochen habe das aber niemand.

In den Konzentrationslagern wurden zahlreiche Menschenversuche durchgeführt - der Star-Chirurg der Charité, Professor Sauerbruch, wusste als Gutachter von wissenschaftlichen Projekten in der Medizin mit hoher Wahrscheinlichkeit davon. Bildrechte: imago images / Andreas Haas

Kaum Widerstand gegen die NS-Ideologie in der Charité

Die Koryphäen der Charité sind zurückhaltend mit ihrem Widerstand gegen die Politik der Nationalsozialisten. Mitglied der NSDAP wird aber trotzdem kein einziger der ordentlichen Professoren. Am 2. Mai 1945 wird die Charité an die neuen sowjetischen Machthaber übergeben. Ärzte wie Heubner, Stieve und Sauerbruch dürfen noch viele Jahre weiterarbeiten – dann in der DDR. Schließlich schmückte sich auch der Arbeiter- und Bauernstaat gern mit den Berühmtheiten aus der Wissenschaft. Über ihre Vergangenheit im Dritten Reich sah man großzügig hinweg.

Was ist die Charité?

Die Charité ist das älteste Krankenhaus von Berlin. Der Name stammt aus dem Französischen und bedeutet so viel wie Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Es wurde 1710 während der großen Pest-Epidemie gegründet, die damals vor allem in Osteuropa grassierte, langsam aber auch das damalige Preußen erreichte - man wollte für den Fall der Fälle gewappnet sein und ließ ein Pesthaus einrichten. Am Ende blieb Berlin aber verschont. Das Pesthaus wurde in ein normales Krankenhaus umgewandelt - Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. gab ihm den Namen Charité.

1810 wurde die Berliner Universität neu gegründet. Danach wurde die Charité immer mehr in die Ausbildung von Medizinstudenten einbezogen. Sie entwickelte sich zu einer der bedeutendsten medizinischen Forschungsstätten Europas - mehr als die Hälfte der deutschen Nobelpreisträger für Medizin oder Physiologie waren an der Charité tätig, darunter Robert Koch, der Begründer der modernen Bakteriologie und Mikrobiologie, dessen Wirken die erste Staffel der ARD-Serie Charité gewidmet ist. Der berühmteste Chirurg der Charité, Ferdinand Sauerbruch, dessen Wirken in der zweiten Staffel nacherzählt wird, musste dagegen ohne den Nobelpreis auskommen, obwohl er etwa sechzigmal dafür vorgeschlagen wurde.

Während der deutschen Teilung lag die Charité ab 1961 direkt an der Berliner Mauer, wobei die eigentliche Grenze dort entlang der Spree verlief - in dieser Zeit spielt die dritte Staffel der ARD-Serie "Charité". Heute hat die Charité rund 3.000 Betten und fast 4.500 Wissenschaftler und Ärzte, davon 290 Professoren.

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Der Artikel war erstmals im Januar 2021 online.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Die Charité - Medizin unterm Hakenkreuz | 20. Februar 2024 | 22:10 Uhr