"stolen memory" Wanderausstellung im KZ sucht Hinterbliebene

Angehörige von NS-Opfern werden gesucht

24. März 2022, 12:12 Uhr

Ohrringe, Taschenuhren, Armreifen, Eheringe: Es gibt noch immer tausende Hinterlassenschaften von Opfern des Nationalsozialismus, die bei den Arolsen Archives liegen. Das Archiv aus Hessen sucht mit seiner Initiative "Stolen Memory" Hinterbliebene, denen die Erinnerungsstücke zurückgegeben werden können. Bis zum 6. April 2022 macht die Wanderausstellung im sachsen-anhaltischen Prettin halt, in der Gedenkstätte des KZ Lichtenburg.

Es ist erstaunlich, dass es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überhaupt möglich war, Hinterlassenschaften aus Konzentrationslagern bestimmten Personen zuordnen zu können.

Deutsche Gründlichkeit

Die deutsche Gründlichkeit hat dafür gesorgt: Die Nationalsozialisten übernahmen mit der Machtergreifung das bis dahin übliche System - Zu jedem, der massenhaft verhafteten angeblichen Systemfeinde wurde eine sogenannte Effekten-Karte angelegt. Was sie bei sich hatten, wurde registriert und in einem Umschlag verwahrt. Es wurde sogar Wert darauf gelegt, dass bei einem Wechsel des Gefängnisses mit dem Häftling die Effekten "mitwanderten". Das galt jedoch nicht für die verfolgten europäischen Juden: Deren Besitz wurde geraubt und dann verkauft, versteigert oder verarbeitet.

Nach 1945 gaben die Alliierten viele Effekte an Opfer oder Angehörige zurück. Die meisten überlebenden KZ-Häftlinge konnte sich allerdings nicht vorstellen, dass die Deutschen tatsächlich so akribisch alles aufbewahrt hatten. Sie kamen nicht auf die Idee, nach den Dingen zu fragen, die ihnen Jahre zuvor brutal abgenommen worden waren.

Persönliche Gegenstände - wer kennt sie?

In den 60er-Jahren gingen die übrig gebliebenen Effekte an den International Tracing Service, die Institution, die für Suchanfragen zuständig war. Dort lagen sie Jahrzehnte und wurden dann ausgehändigt, wenn Suchanfragen zufällig einen Treffer ergaben. Doch tausende persönliche Gegenstände - Eheringe mit Gravuren, Taschenuhren mit Fotos, Briefe und Zeichnungen - holte niemand ab. Die Mitarbeiter des Archivs aber waren sich sicher: Es gibt Menschen, für die diese Dinge einen unermesslich hohen ideellen Wert haben, sind sie doch das Letzte, was der verstorbene Angehörige besaß.

Geschichte aus dem Baucontainer

Bis 2015 lagerten in Bad Arolsen noch immer persönliche Gegenstände von 3.200 Personen verschiedenster Nationalitäten. Der ITC – inzwischen die Arolsen Archives – entschied, aktiv nach Angehörigen zu suchen. Der Erfolg war riesig: Neben zwei Opfern, denen ihr persönlicher Schmuck überreicht werden konnten, gab es in 700 Fällen Angehörige auf der ganzen Welt, die ein letztes Erinnerungsstück erhielten. Mit der Initiative "Stolen Memory" wird nun auf die noch im Archiv befindlichen Dinge hingewiesen.

In einem bunten auffälligen Baucontainer, der als Wanderausstellung durchs Land reist, werden einzelne Geschichten zu den jeweiligen Erinnerungsstücken erzählt, wie die von Claude Taufer. Der Österreicher wurde 1911 in Wolfurt geboren. 1943 kam er ins KZ Dachau, wurde dort von der US Army befreit. Seine Habseligkeiten bekam er jedoch nicht zurück. Von ihm gibt es einen Reisepass und sehr viele persönliche Fotos, die Einblick in sein Leben vor der Verhaftung geben.

Der Ausstellungsort: das KZ-Lichtenburg

Die Ausstellung gerade hier in der Gedenkstätte Lichtenburg in Sachsen- Anhalt zu platzieren, hat einen guten Grund. Das KZ nahm eine Schlüsselposition im System der Konzentrationslager ein. Der ehemalige Witwensitz der sächsischen Kurfürsten fungierte ab 1933 als Experimentierfeld für Schutzhaft.

Neu war die Verwendung von weiblichen Hilfskräften und Gefangenen-Aufseherinnen im KZ-System. Ihre Bezahlung erfolgte als Reichsangestellte nach der Tarifordnung der Angestellten im öffentlichen Dienst.

Historiker Dr. Stefan Hördler Wallstein-Verlag, ISBN 978-3-8353-1404-7

In seinem Buch "Ordnung und Inferno" legt der Historiker eindrücklich dar, wie herausragend wichtig das KZ Lichtenburg für die gesamte weitere Entwicklung des Lager-Systems der Nazis war. Viele Personen, die später teils auf hochrangigen Posten in anderen Konzentrationslagern tätig waren, wurden hier "ausgebildet". Auch die Vielfältigkeit der Häftlingsgruppen ist besonders: Sogenannte staatsfeindliche Elemente wie Kommunisten und Kommunistinnen, Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen, Personen des politischen Widerstands, sogenannte Berufsverbrecher oder auch Zeugen Jehovas oder Homosexuelle. Einer der bekanntesten Insassen war der in Halle/Saale geborene Rechtsanwalt Hans Litten. Er saß von Juni 1934 bis August 1937 im KZ-Lichtenburg, bevor er ins KZ Dachau kam und dort ein Jahr später starb.

Wer kennt Werner Rudolph?

Die Arolsen Archives haben in ihrem Bestand keine Effekte von Insassen aus Lichtenburg. Aber es gibt Nachlässe von Menschen, die aus Mitteldeutschland stammen. Zum Beispiel die Effekte von Werner Rudolph, Mitglied der KPD. Er wurde 27.04.1912 in Leipzig geboren. Wegen angeblicher Vorbereitung zum Hochverrat verhaftete ihn die Gestapo Leipzig.

Er wurde vom Oberlandesgericht Dresden zu vier Jahren Haft und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt. Werner Rudolph kam ins Zuchthaus Waldheim bei Döbeln, danach ins KZ Sachsenhausen und ins KZ Dachau, dort erlebte er die Befreiung durch die US-Army. Der Nachlass besteht aus einem Ring, einer Armband-Uhr und einem Schein, auf dem Werner Rudolph von der Wehrmacht ausgeschlossen wurde.

Die Macher der Aktion erhoffen sich, dass viele Menschen die Idee von "Stolen Memory" und deren Geschichten in die Welt tragen um noch weitere Erinnerungsstücke zurückgeben zu können.

Wir sehen, dass Menschen tief berührt sind, wenn sie in der Ausstellung eine Taschenuhr sehen oder ein paar Ohrringe. Ich denke, jeder hat auch selbst Dinge, an denen er hängt, weil sie einen an jemanden erinnern. Wie schön muss es sein, von einem verstorbenen Menschen – noch dazu jemandem, der so sehr gelitten hat – solche Gegenstände überreicht zu bekommen. Dieses Glück ist es, was uns antreibt

Ramona Bräu, Arolsen Archives

Wenn möglichst viele Menschen von den einzelnen Geschichten erfahren, wächst die Chance, dass sich Angehörige finden. Auf der Homepage des Archives sind die Nachlass-Stücke digital durchsuchbar.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR ZEITREISE | 24. Januar 2021 | 22:00 Uhr

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