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Blick durch einen Zaun auf das Krematorium des ehemaligen KZ Buchenwald Bildrechte: MDR/Sascha Beier

16. April 1945Zwangsbesichtigung von Buchenwald: "Nichts hat mich je so erschüttert wie dieser Anblick"

17. Januar 2022, 17:08 Uhr

Auf ihrem Vormarsch Richtung Berlin befreiten amerikanische Truppen am 11. April 1945 das Konzentrationslager Buchenwald. Ein Bild des Grauens offenbart sich den Alliierten: Leichenberge, Menschenasche in den Krematoriumsöfen, abgemagerte Häftlinge. Und eine Frage drängt sich auf: Wie konnten seit der Eröffnung des KZs 1937 - unbemerkt von den Weimarer Bürgern all diese Gräueltaten begangen werden? Immerhin war das Lager nicht einmal zehn Kilometer entfernt vom Zentrum - und der Ettersberg, auf dessen Hängen das Lager stand, lange Jahre ein beliebtes Ausflugsziel. Die US-Truppen fassen einen Entschluss: Am 16. April 1945 müssen rund 1.600 Weimarer das KZ Buchenwald besichtigen - und sich mit den Taten vor Ort konfrontieren.

Am Morgen des 16. April 1945 klopfen US-Soldaten an den Haustüren der Weimarer. Alle Bewohner, so ist es in Zeitzeugenberichten zu lesen, müssen sich im Hof versammeln. Die Soldaten suchen sich wahllos Bürger verschiedenen Alters heraus. Am Ende sind es mehr als Tausend  die zum Ettersberg hinauf bis zum Lager zu Fuß marschieren. Um 14 Uhr kommen sie an und müssen im Hof des Krematoriums die Leichen betrachten. Es ist heiß an diesem Tag. Die Leichenberge stinken. Einige der Weimarer Bürger fallen in Ohnmacht. Doch die Amerikaner zwingen sie zum Bleiben – bis zum Abend – und filmen das Ereignis.

Schädel mit abgezogener Haut

Nicht nur die Leichenberge, auch den Rest des Lagers müssen sich die Weimarer anschauen. Auf dem Appellplatz haben die Soldaten Objekte aus dem medizinischen Versuchsbereich des Lagers auf einem Tisch drapiert. Es sind vor allem Glasgefäße mit konservierten menschlichen Organen darin. Auch zwei Schädel von polnischen Gefangenen, die fliehen wollten, sind zu sehen: Ihnen hatte man die Haut abgezogen.

"Nichts hat mich je so erschüttert wie dieser Anblick"

Doch wie kamen die US-Truppen auf die Idee, die Weimarer zu einem solchen Besuch zu zwingen? Der Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte, Dwight D. Eisenhower, schreibt nach einem Besuch des Lagers am 12. April 1945 in sein Tagebuch:

General Dwight David Eisenhower hier im Bergwerk Merkers. Bildrechte: imago/UPI Photo

Ich bin niemals im Stande gewesen, die Gefühle zu schildern, die mich überkamen, als ich zum ersten Mal ein so unbestreitbares Zeugnis für die Unmenschlichkeit der Nazis und dafür vor Augen hatte, dass sie sich über die primitivsten Gebote der Menschlichkeit in skrupelloser Weise hinwegsetzten. (...) Nichts hat mich je so erschüttert wie dieser Anblick.

Er fasst einen Entschluss: Die Weimarer Bürger müssen damit konfrontiert werden, was dort auf dem Ettersberg seit acht Jahren täglich ablief. Bereits im Sommer 1937 kommen die ersten Häftlinge an. Hier müssen sie ein Lager bauen, in dem sie und ihren Schicksalsgenossen später gequält und ermordet werden.

"Grundstücksabtretung zwecks Konzentrationslager"

Schon ein Jahr zuvor - 1936 - werden die Bauern bei Weimar mit einem Schreiben informiert: "Betreff: Grundstücksabtretung von Erbhöfen. […] Die abgetretenen Ländereien der verschiedenen Bauern dienen der Errichtung eines Konzentrationslagers." Insgesamt sind es 60 Hektar, die dafür beansprucht werden. Dwight D. Eisenhower kann sich nicht vorstellen, dass die Weimarer davon nichts wussten.

In dem Film "Special Film Project" von William Wyler ist der Besuch auf dem Ettersberg vom 16. April 1945 festgehalten. In den originalen Aufnahmen sind apathische und ungläubige Gesichter der Weimarer zu sehen. Doch eine Antwort auf die Frage, ob sie vom Konzentrationslager auf dem Ettersberg wussten, ist das nicht. Denn viele Weimarer behaupteten  immer wieder: Konzentrationslager? Davon haben wir nichts gewusst! Doch vielleicht ahnten sie, was auf dem Ettersberg geschah? Im April 1945 jedenfalls musste es ihnen spätestens klar geworden sein, als Tausende Häftlinge des Konzentrationslagers auf einen Todesmarsch geschickt worden sind.

(jok)

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Ja, Andrei Iwanowitsch | 27. März 2023 | 00:00 Uhr