Der Tod eines Automobilfabrikanten

10. Oktober 2018, 21:15 Uhr

2. Juni 1945. In Hainichen wird der Autofabrikant Hans Rasmussen verhaftet – Vater von vier Kindern und Spross einer der reichsten Familien Mitteldeutschlands. Kurz nach seiner Verhaftung stirbt Rasmussen mit 39 Jahren in einem sowjetischen Internierungslager. Warum? Und warum gerade er? Das will seine Tochter Sybille Jahrzehnte später herausfinden.

Hans Rasmussen ist der älteste Sohn von Jörgen Skafte Rasmussen. Sein Vater ist nicht irgendwer, sondern Gründer der legendären sächsischen Motorrad- und Automarke DKW. Und der macht seinen Sohn schon mit jungen Jahren zum Chef der Framo-Werke in Hainichen, wo schicke Kleinwagen und Transporter vom Band laufen – später, in der DDR unter der Marke "Barkas" bekannt. Drei Monate nach seiner Verhaftung stirbt Hans Rasmussen in einem Lager des sowjetischen Geheimdienstes NKWD in Schlesien: an Entkräftung und den Folgen der Ruhr. Als die Todesnachricht die Hinterbliebenen erreicht, ist seine Tochter Sybille acht Jahre alt. Die unbeschwerte Kindheit ist für sie damit zu Ende.

Ich weiß nur, dass ich ihn mein ganzes Leben vermisst habe, den Vater und einen Vater, ganz leise für mich vermisst. Aber ich habe nicht darüber gesprochen, weil ich wusste, ich kann mit meiner Mutter darüber nicht reden. Mir war klar, dass sie unter der Situation leidet, ich habe es runtergeschluckt so gut ich konnte. Es war einfach keine Kindheit mehr, die war weg.

Sybille Krägel, Tochter des Automobilfabrikanten Hans Rasmussen

Letzte Worte aus der Internierungshaft

Über Jahrzehnte versucht Sybille, den Verlust ihres Vaters zu verdrängen. Doch die Fragen bleiben und quälen sie: Warum genau wurde der Vater verhaftet? Wie eng waren seine Verflechtungen mit dem NS-Regime? Sybille Krägel, geborene Rasmussen, hat ihren Vater als einen liebevollen Menschen und einen guten Arbeitgeber in Erinnerung. Was hat er verbrochen, dass er sterben musste? War er wirklich ein Nazi? Diese Gedanken lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Gemeinsam mit dem Recherche- und Kamerateam der MDR-Reihe "Die Spur der Ahnen" geht sie daher auf Spurensuche. Und diese führt sie in eine ehemalige Heilanstalt für psychisch Kranke nach Toszek in Polen, früher Tost in Oberschlesien. Dort war Hans Rasmussen interniert. Allein in der Anstaltskapelle hausten 500 Häftlinge. Aus dem Brief eines Mitgefangenen erfährt sie die vielleicht letzten Worte ihres Vaters:

Er weiß, er wird hier nicht mehr entkommen, aber er möchte noch einmal in die Augen, in die lachenden Augen seiner Kinder sehen.

Mithäftling von Hans Rasmussen

"Als ich diesen Brief bekam, habe ich das erste Mal wieder etwas über meinen Vater gehört. Das hat mich ein bisschen von den Füßen geholt", erzählt Sybille Krägel.

Was geschah in Hainichen?

Sie will mehr wissen und reist nach Hainichen – dorthin, wo sie ihre Kindheit verbracht hat, wo der Betrieb des Vaters war und wo er schließlich verhaftet wurde. Heute noch steht die Betriebsvilla, in der die Familie bis 1945 wohnte. Sybille hat vom Suchdienst des Roten Kreuzes Karteikarten erhalten. Angelegt vom sowjetischen Geheimdienst nach Schließung der Speziallager. Darauf steht, dass Hans Rasmussen "Rabotnik" war, Mitarbeiter des Hitler-Regimes. "Der wichtigste Befehl für die sowjetische Besatzungszone ist der vom 18. April 1945, wo es darum geht, dass bestimmte Gruppen von Deutschen zu verhaften sind, weil sie für gefährlich gehalten werden. Nicht weil sie Verbrecher sind, sondern weil man sie für gefährlich hielt, politisch gefährlich", sagt Historiker Klaus-Dieter Müller. 100.000 Deutsche wurden nach diesem Schema 1945 verhaftet. 70 von ihnen kamen aus Hainichen.

War es Rache der Antifa?

Am 7. Mai 1945 wird das sächsische Hainichen ohne Widerstand von der Roten Armee eingenommen. Unter dem Schutz der Sowjets bilden sich auch hier so genannte "Antifaschistische Aktionsausschüsse". Ihre Aufgabe: Den Besatzern zu helfen – auch beim Aufspüren von "Mitarbeitern des Hitlerregimes". Akten aus dem Stadtarchiv belegen: Hans Rasmussen tritt bereits 1931 in die NSDAP ein. Zum frühen Parteieintritt kommt, dass Sybille Krägels Vater seine NSDAP-Mitgliedschaft keinesfalls verbirgt. Im Gegenteil: Auf Fotos ist gut zu erkennen, dass er das Parteiabzeichen gern und häufig trägt. Nicht ohne Grund: Mit den Nazis lässt sich Geld verdienen. Die Framo-Werke erproben schon lange vor dem Krieg einen selbstentwickelten Geländewagen für das Heereswaffenamt. 1939, kurz nach Kriegsausbruch, bekommt der Konzern den Zuschlag für eine "spezielle Geschütz-Fabrikation". 1943 wird die zivile Automobilproduktion dann komplett eingestellt. Angesichts dieser Tatsachen verwundert es nicht, dass Hans Rasmussen mehr als nur ein "Mitläufer" in den Reihen der NSDAP ist. Und genau solche überzeugten Parteigenossen sind 1945 auf dem Radar der Antifa-Ausschüsse, auch in Hainichen.

Erlebnisse in der Kindheit

Als Kind wusste Sybille Krägel nicht, was während des Krieges in der Firma ihres Vaters produziert wurde. Bis heute erinnert sie sich an ein Ereignis, das sie damals nicht einordnen konnte. "Im Winter 1945, bin ich in der Küche gestanden und hörte auf der Straße so ein schlurfendes Geräusch. Dann bin ich ans Fenster gegangen und habe gesehen, dass da eine Gruppe Frauen vorüberging. Ein bisschen vorgebeugt – irgendwie war mit denen was nicht normal. Deshalb habe ich das Küchenmädchen gefragt, was das für Frauen sind. Und sie hat mir nur kurz zur Antwort gegeben: Die wohnen in der Nadelfabrik. Und das klang so kategorisch, dass ich das Gefühl hatte, ich brauche nicht weiter zu fragen." Was Sybille damals nicht weiß: Die Frauen gehören zu den 500 Jüdinnen aus Auschwitz, die seit Oktober 1944 bei Framo in Hainichen arbeiten müssen.

Im Grunde war Framo ein nationalsozialistischer Vorzeigebetrieb. Man hat sich halt Vorteile versprochen für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens, wenn man mit dem Regime konform geht.

Pascal Cziborra, Historiker

Rasmussen und das Kriegsende

Ende Mai 1945 gibt es bei der Framo eine Betriebsversammlung. Zeitzeugen erinnern sich daran, dass Hans Rasmussen dabei offensichtlich für ihn überraschend sehr scharf angegriffen wird. Rasmussen allein wird verantwortlich gemacht für Rüstungsproduktion, Beschäftigung von Zwangsarbeitern und die Errichtung eines KZ-Außenlagers. Zu den Wortführern gegen ihn gehört ausgerechnet Richard Schulz, kaufmännischer Direktor der Framo-Werke, NSDAP-Mitglied und engster Vertrauter von Hans Rasmussen. Für Tochter Sybille ist diese Information des Historikers Müller neu: "Dieses Verhalten von Herrn Schulz, den meine Mutter noch viele Jahre lang als Freund empfunden hat, erschüttert mich sehr."

Richard Schulz erkauft sich mit diesem Seitenwechsel ein halbes Jahr Aufschub, darf die Demontage der Framo-Werke abwickeln, wird dann aber im Januar 1946 doch noch verhaftet. Sein Co-Direktor Hans Rasmussen aber wird schon wenige Tage nach der Betriebsversammlung in Haft genommen, in der er später stirbt. Seine letzte Ruhestätte ist bis heute nicht eindeutig identifiziert – laut Unterlagen ist es ein Massengrab in Toszek, heute ein Betriebsgelände. Sybille Krägel will den Leichnam ihres Vaters unbedingt finden und ihm eine würdige Ruhestätte geben. "Er war im gewissen Sinne Täter, nach dem, was ich heute weiß. Aber ich weigere mich, meinen Vater total zu demontieren. Er ist nach wie vor mein Vater geblieben", sagt sie am Ende ihrer Spurensuche mit dem Team von "Spur der Ahnen".

Über dieses Thema berichtet der MDR auch im Fernsehen: Die Spur der Ahnen - Der Tod des Automobilfabrikanten | 10.10.2018 | 21:15 Uhr