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1945: Aufwachsen als Kind eines BesatzungssoldatenMichael-Alexander Lauter und die Besatzungskinder

15. September 2015, 11:42 Uhr

Sie galten als "Bankerte" oder "Bastarde", "Russenbälger"oder "Amikinder": Im ersten Nachkriegsjahrzehnt wurden in Deutschland und Österreich rund 440.000 Kinder geboren, deren Väter Besatzungssoldaten waren. Nur in den seltensten Fällen erkannten die Erzeuger ihre Vaterschaft amtlich an. Die Kinder waren stigmatisiert, weil unehelich geboren und aus der Beziehung mit dem Feind. Die Kinder und Jugendlichen wurden ausgegrenzt, verhöhnt und fühlten stets, das etwas fehlt. So auch Michael-Alexander Lauter. "Wer bin ich?" – diese Frage stellt er sich sein halbes Leben. Dass mit ihm etwas nicht stimmt, ist seine erste wirkliche Erinnerung.

Die erste Erinnerung von Michael Lauter

In seiner Erinnerung wächst Michael-Alexander Lauter zunächst in einer Pflegefamilie, dann in verschiedenen Kinderheimen auf. Seine Mutter arbeitet bei der Wismut AG, die Uran abbaut und damals von der Sowjetunion verwaltet wird. Einen Vater gibt es nicht. Im Kinderheim fühlt sich Michael als "Nesthäkchen" wohl, er wird gut umsorgt, seine Mutter besucht ihn regelmäßig. Als er fünf Jahre alt ist, soll er sein gewohntes Zuhause verlassen: Im Frühjahr 1953 holt seine Mutter ihn ab, mit "Onkel Kurt". Dieser hat den kleinen Michael adoptiert, damit seine wahre Identität nicht auffliegt. Denn Michael ist das Kind eines Besatzers, im Volksmund ein "Bankert". Ein Kind des Feindes, ein Kind der Schande. Wer sein Vater wirklich ist, soll Michael Lauter erst viel später erfahren.

Und dann gehen wir aus dem Kinderheim raus und die Straße entlang. Und in so einer Straßenbeuge sehe ich dort Onkel Kurt und sage: 'Da ist ja Onkel Kurt!' und dann werde korrigiert: 'Ne, ne. Das ist doch der Vati.' Und dann gucke ich meine Mutter verwundert an: 'Wieso ist das der Vati, das ist doch Onkel Kurt.' - 'Nein das ist dein Vati.' Das war so der Moment, der mir immer in Erinnerung geblieben ist, die wundersame Verwandlung von Onkel Kurt.

Michael-Alexander Lauter, Jahrgang 1947

Michael Lauter kommt als Besatzungskind zur Welt

Die Mutter von Michael, Helene, ist 1945 aus Ostpreußen nach Bitterfeld in Sachsen-Anhalt geflohen. Die Dreißigjährige ist geschieden, hat bereits zwei Kinder und führt ein emanzipiertes Leben. Einer ihrer Gefährten ist Leutnant in der Sowejtarmee, Mojssej Tjomkin. 1946 lernen sie sich in der örtlichen Sowjetischen Kommandatur kennen, er ist Propagandist, sie arbeitet im Auftrag der Partei. Es funkt, die beiden verleben eine sorglose Zeit. Als Helene schwanger wird, ist die Freude erst groß, doch das Glück ist nicht von Dauer. Fünf Tage vor der Geburt von Michael wird sein Vater abrupt in die Heimat zurückkomandiert. Der Sowjetoffizier verabschiedet sich karg, hinterlässt gerade noch seine Leningrader Adresse. Helene ist tief getroffen, verletzt und wütend. Sie nimmt den Job bei der Wismut AG an, später will sie mit dem neuen Ehemann Kurt und Sohn Michael in Dresden einen Neuanfang wagen. Michaels Herkunft bleibt ein Tabu. Er erfährt nichts, weder von der Mutter, den Verwandten oder Nachbarn. An "Vati Kurt" glaubt er nicht so richtig, selbst als die Mutter ihm eine gefälschte Geburtsurkunde mit Kurt als Vater zeigt.

Mutter Helene offenbart, wer der Vater ist

Je älter Michael Lauter wird, desto drängender wird die Frage nach dem Vater. Weil seine Mutter mit großer Hochachtung von den französischen Fremdarbeitern spricht, zu denen sie nach dem Krieg Kontakt hatte, glaubt er, sein Vater sei ein Franzose. Er trägt Baskenmütze, fühlt sich zu Land und Kultur hingezogen. Als er 14 Jahre alt ist, lässt sich die Mutter vom angeblichen Vater Kurt scheiden. Michael stellt sie eines Abends in der Wohnküche zur Rede, will wissen, wer nun sein Vater ist. Helene kramt in einer Schublade und zieht ein Foto von Mojssej heraus. Die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn ist bestechend. Der Vater ist also kein Franzose, sondern ein sowjetischer Soldat.

Ich frage sie: 'Sage mal, ich bin doch bestimmt ein kleiner Franzose?' Das wollte dann die Mutter offensichtlich nicht auf sich sitzen lassen. Und hat dann gesagt, das stimmt so nicht, und sucht Bild und hat mir das gezeigt und gesagt: 'Dein Vater ist ein russischer Offizier.' Ja, zunächst mal bricht eine Illusion zusammen. Aber auf einmal kommt die Bestätigung, mein Zweifel war völlig berechtigt.

Michael-Alexander Lauter

Michael Lauter sucht seinen Vater

Nach dem Gespräch mit der Mutter versucht Michael, der Welt seines Vaters näher zu kommen. Er liest Bücher über sowjetische Pädagogik und sucht gezielt nach Mojssej. Er verfasst einen Brief an die Redaktion der ihm vertrauten Tageszeitung "Junge Welt", das Zentralorgan der FDJ, und bittet um Hilfe bei der Suche. Doch die Redakteure anworten nicht.

Die Historiker Silke Satjukow und Rainer Gries, die sich seit Jahren mit den Schicksalen von Besatzungskindern beschäftigen, erklären dieses Schweigen mit der paradoxen Situation, die in den 1950-iger Jahren in der DDR herrscht: Offiziell ist der Russe der Befreier, der Freund. Doch kein Sowjetsoldat darf je auf Unterhalt verklagt werden. Wird eine Schwangerschaft bekannt, werden die Rotarmisten in die Heimat zurückbeordert. Über Zeugung und Geburt der mehreren hunderttausend "Russenkinder", die in der DDR leben, wird geschwiegen. Und so verlieren sich die Spuren der russischen Besatzungsväter im Nirgendwo.

Grundsätzlich muss man sagen, dass niemand diesen Kindern geholfen hat. In der DDR war das Thema tabu, waren sie als Besatzungskinder nicht einmal in den Akten geführt."

Rainer Gries, Historiker

Michael Lauter lässt sich jedoch nicht abschütteln. Er schreibt weiter, ans Neue Deutschland, schließlich sogar an die russische Prawda. Letztere will seine Anfrage zumindest ans Russische Rote Kreuz weiterleiten. Vier Jahre passiert nichts, bis eine kleine, unscheinbare Mitteilung sein Leben verändert: "Ihr Vater gefunden."

Die Begegnung mit dem Vater

Der inzwischen 21-Jährige Michael formuliert einen vorsichtigen Brief an den Vater und erhält Antwort. Mojssej ist inzwischen 65 Jahre alt und erzählt, dass er in Leningrad lebe, zwei Töchter habe und Jude sei. Zwei Jahre später, 1969, besucht Michael seinen Vater zum ersten Mal. Die Mutter weiß davon, möchte ihren einstigen Geliebten aber nicht wiedersehen. Mojssej holt seinen Sohn am Bahnsteig ab und erzählt die Geschichte, wie sie sich aus seiner Sicht ereignet hat. Dass er sich gefürchtet habe, weil er Jude sei und wusste, dass die Verbindung mit einer Deutschen verboten war. Als er von seinem Kommandeur auf die Beziehung angesprochen wurde, erklärte Mojssej freiwillig, das Land zu verlassen und jeden Kontakt zu unterbinden. Daran hält er sich, selbst seine Familie weiß, bis Michael seinen Vater ausfindig gemacht hat, nichts von seiner Verbindung nach Deutschland. Michael Lauter kennt nun endlich seine wahren Wurzeln. Nicht nur sein Vater, auch seine beiden Schwestern erkennen ihn an.

Michael Lauters Leben nach der Begegnung mit dem Vater

Die Vatersuche findet für Michael Lauter ein gutes Ende. Bis 1989 ist der gelernte Rinderzüchter und Diplomagraringenieur Leiter Tierproduktion in einer LPG und Jugendfunktionär in der FDJ in Torgau. Nach 1989 wird er Mitarbeiter des Bezirksvorstandes der PDS, sucht sieben Jahre nach einem neuen Job, wird schließlich Geschäftsführer einer Bildungsfirma und selbständiger EDV-Trainer. Michael Lauter arbeitet am Grünen Runden Tisch im Bezirk Leipzig mit und ist heute Mitglied im Stadtvorstand der Partei Die Linke in Leipzig.

BuchtippSatjukow, Silke, Gries, Rainer: "Bankerte!"
Besatzungskinder in Deutschland nach 1945",
415 Seiten,
Frankfurt/New York: Campus Verlag 2015,
ISBN: 978-3593502861,
Preis: 29,90 Euro.