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Kinder des Krieges"Mit den Enkeln spricht es sich leichter über den Krieg"

28. Januar 2021, 09:14 Uhr

Viele, die als Kinder den Krieg erlebt haben, konnten lange Jahre nicht darüber sprechen – aus Scham oder Schuldgefühlen. Manchen gelingt das erst mit den Enkeln, denn die stellen weniger Fragen nach der Moral, sagt die Historikerin Barbara Stambolis. Sie hat mit unzähligen Kriegskindern und ihren Angehörigen gesprochen. Es zeigt sich: Die Kriegsgeneration ist häufig zufriedener mit ihrem Leben und legt viel Wert auf Zusammenhalt und Demokratie.

Frau Stambolis, viele Kriegskinder haben schreckliche Dinge erlebt. Oft fragt man sich, wie diese Menschen überhaupt wieder glücklich werden konnten nach dem Krieg. In einer Studie, die der MDR in Auftrag gegeben hat, sagen viele Kriegskinder aber, dass sie mit ihrem Leben zufrieden oder sehr zufrieden sind. Deutlich häufiger, als das die nachfolgenden Generationen sind. Wie kann das sein?

Es war vieles normal, was wir heute nicht als normal ansehen würden. Viele Kriegskinder haben es tatsächlich als normal empfunden, dass sie ohne Vater aufwuchsen, so wie ungefähr zwölfeinhalb Millionen Kinder in ganz Europa. Es war auch normal, dass man arm war, dass man mit anpacken musste, wenig klagte. Auf der Flucht bereiteten Kinder ihren Eltern zusätzliche Probleme. Und man hatte wenig Zeit, sich auf Gefühlslagen von Kindern einzulassen, weil die Menschen mit dem Überleben beschäftigt waren. Auf der anderen Seite hat es ja bei ihnen auch glückliche Situationen gegeben oder Menschen, die ihnen geholfen haben. Zum Beispiel berichten viele über "Kontrolllöcher" - wenn sie unbeaufsichtigt waren, konnten sie wunderbar mit anderen Kindern spielen, weil die Erwachsenen beschäftigt waren. Es gehört wohl zum menschlichen Leben, dass alle Älterwerdenden rückblickend diese schönen Erinnerungen aufzählen möchten. Und dass Menschen, die Schreckliches erlebt haben, manches vielleicht vergessen oder zudecken müssen, weil es sie sonst ein Leben lang belastet. Und weil sie Angst haben, es an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben.

Erleben nachfolgende Generationen Kriegstraumata bewusst oder unbewusst weiter? 

Was sicherlich weitergegeben wird, ist, dass in den Familien der Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs sehr viel geschwiegen wurde. Weil man zum Beispiel Angst davor hatte, was zutage treten würde, wie Angehörige vielleicht auch Schuld im Krieg auf sich geladen haben. Eine andere Seite ist, dass vieles vielleicht auch nicht aussprechbar ist, weil es sich um Gefühle handelt, über die einfach schwerer zu sprechen ist. Vielleicht sollte man aber noch unterscheiden zwischen belastenden Situationen und Traumata im engeren Sinne. Traumata sind eigentlich nicht kontrollierbar. Das ist vor allem für Kinder und Enkelkinder in den Familien ausgesprochen schwierig, wenn nicht darüber gesprochen wurde. Denn wie soll man mit diesen Panikattacken eines Angehörigen umgehen, wenn man nicht weiß, was wirklich geschehen ist? Es ist also durchaus gut, wenn verschiedene Generationen in einer Familie es schaffen, so miteinander zu sprechen, dass der eine weiß, was der andere erlebt hat. Oft gelingt das zwischen Enkeln und Großeltern leichter, als zwischen Kindern und Eltern.

Warum ist das so?

Großeltern haben in der Regel bei Enkeln keinen Erziehungsauftrag, das Verhältnis ist irgendwie lockerer. Sie können liebevoller sein, zum Beispiel. Das erzählen Kriegskinder oft, dass sie ihre eigenen Kinder nicht in den Arm nehmen konnten. Weil sie vielleicht selber als Kinder nie Zärtlichkeit erfahren haben. Aber bei ihren Enkeln können sie das. Vielleicht, weil die Enkel sehr unbefangen sind und die politischen Hintergründe dieser Zeit nicht kennen. In der Bundesrepublik hat es ja die 1960er-Jahre gegeben, in denen sehr viele moralische Fragen gestellt wurden an die Vergangenheit. Und mit Blick auf die älteren Kriegskinder, die um 1930 zur Welt gekommen sind, wurde dann häufig gefragt: "Haben sie Schuld auf sich geladen?" Enkel heute haben diese Scheu gar nicht mehr, sondern sie lassen sich einfach erzählen, wie es damals war.

Sie sprechen das Thema der Schuld an. Viele Kriegskinder wuchsen mit der nationalsozialistischen Ideologie auf. Trotzdem waren gerade sie es, die das Nachkriegsdeutschland so tatkräftig aufgebaut haben. Haben sie ihre Erziehung einfach abgeschüttelt?

Man muss in der Tat unterscheiden zwischen den Kriegskindern, die zwischen 1939 und 1945 geboren sind, und den wesentlich älteren, die um 1930 zur Welt gekommen sind. Das waren die Kindersoldaten oder, wie die Alliierten nach 1945 gesagt haben, die "nazifizierten Kinder". Zum Teil haben sie ihren Eltern später den Vorwurf gemacht, dass sie so überzeugte Nationalsozialisten gewesen sind. Insofern hat diese Altersgruppe, die den Nationalsozialismus bewusst erlebt hat, nach 1945 häufig sehr stark darauf geachtet, sich für zivile Werte einzusetzen, für eine demokratische Gesellschaft, für ein Zusammenwachsen von Europa nach dem Prinzip "Wehret den Anfängen, damit so etwas nie wieder passiert".

Die Studie zeigt auch, dass den Kriegskindern materielle Werte sehr wichtig sind. Kann man die Kriegskinder daher als materialistisch bezeichnen?

Ich denke, dass es ein Vorwurf ist, der zum Teil von den Kindern der Kriegskinder an ihre Eltern gerichtet wurde. Das ist sicherlich ein zu Recht erhobener Vorwurf, den man aber relativieren kann, wenn man in die Kindheit dieser Kriegskinder geht. Menschen, die alles verloren haben, die vielleicht sich unglaublich anstrengen mussten, um überhaupt eine Lebensgrundlage zu haben, haben natürlich auch auf Materielles geschaut. Dass dabei manches auf der Strecke geblieben ist, ist sicher auch unbestritten.

Kinder spielen in den Trümmern einer zerstörten Stadt im Deutschland der Nachkriegszeit. Bildrechte: picture alliance/dpa

Gibt es Unterschiede in den Kindheitserinnerungen in verschiedenen Ländern Europas? Haben polnische Kinder den Krieg anders erlebt als etwa französische oder deutsche?

Kriegskindheiten haben eine ganz breite Palette von Erfahrungshintergründen. Einen der extremsten haben wohl die jüdischen Kriegskinder. Das sind Kinder, die, wenn sie überlebt haben, am Kriegsende 1945 eigentlich alles verloren hatten. Deren Leidensgeschichte beginnt in der Regel allerdings auch schon vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Das heißt, sie wurden diffamiert und ausgegrenzt, schon bevor sie den "gelben Stern" tragen mussten. Diese jüdischen Kriegskinder gibt es natürlich europaweit. Wenn wir versuchen zu vergleichen, ist das natürlich schwierig. Historiker haben vor einigen Jahren mal versucht, russische und deutsche Kriegskinder nebeneinander zu stellen. Dabei ist mir aufgefallen, dass etwa bei den russischen Kriegskindern, die die Blockade von Leningrad erlebt haben, das Thema Hunger eine viel größere Rolle gespielt hat.

Haben Kriegskinder ein anderes Verständnis von Glück?

Nach den Interviews, die ich geführt habe, ist meine Vermutung, dass sie sehr gut unterscheiden können zwischen dem, was im Leben zählt, und Dingen, die vielleicht nicht so wichtig sind. Dass Zusammenhalt eine wichtige Rolle spielt, dass es mehr gibt als materielle Güter, etwa demokratische Werte, zivile Werte – das ist etwas, was sie, glaube ich, sehr zu schätzen wissen und auch als Errungenschaft ansehen. Und sie hoffen, dass ihre Kinder die Verhältnisse, unter denen sie aufgewachsen sind, nie wieder erleben müssen.

Barbara Stambolis ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Paderborn. Sie hat als Fachberaterin das multimediale Projekt "Kinder des Krieges" begleitet. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf Kriegskindheiten und ihren Folgen sowie Jugend- und Generationengeschichte im 20. Jahrhundert.

Dieses Thema im Programm:Kinder des Krieges | 05. Mai 2020 | 22:05 Uhr