Der Landtag von Sachsen-Anhalt
Der Landtag von Sachsen-Anhalt in Magdeburg Bildrechte: imago/Westend61

Koalitionen in Sachsen-Anhalt "Magdeburger Modell" und "Kenia-Koalition": Sachsen-Anhalt als politischer Vorreiter

15. Juni 2021, 11:47 Uhr

Der Landtag von Sachsen-Anhalt gilt als Versuchslaboratorium für Koalitionen. Seit 2016 regieren CDU, SPD und Bündnis'90/Die Grünen in einer sogenannten "Kenia-Koalition". Ein solches Bündnis hatte es in der Bundesrepublik noch nie gegeben. Für große Aufregung sorgte nach der Landtagswahl 1994 das sogenannte "Magdeburger Modell", als die PDS eine Minderheitsregierung aus SPD und Bündnis '90/Die Grünen tolerierte.

Der Wahlabend des 26. Juni 1994. In Sachsen-Anhalt hatten die Bürger zum zweiten Mal seit 1990 eine Landesregierung gewählt. Im Landtag in Magdeburg feierten die Christdemokraten ihren freilich nur hauchdünnen Sieg. Sie waren mit 34,4 Prozent der Wählerstimmen stärkste Partei geworden. Die SPD erreichte 34,0, die PDS 19,9 und Bündnis'90/Die Grünen fünf Prozent. Christoph Bergner, der das Amt des Ministerpräsidenten ein halbes Jahr zuvor von seinem glücklosen Vorgänger Werner Münch übernommen und die CDU aus einem Umfragetief geführt hatte, nahm erste Glückwünsche entgegen. Er wähnte sich bereits als neuer Regierungschef. Zur gleichen Zeit tanzte SPD-Spitzenkandidat Reinhard Höppner mit seiner Frau auf der Wahlparty seiner Partei und ließ sich als neuer Ministerpräsident bejubeln.

SPD wollte an die Macht in Magdeburg

Tags darauf erfuhr CDU-Mann Bergner, dass er keineswegs in die Magdeburger Staatskanzlei zurückkehren könne. Reinhard Höppner nämlich lehnte Koalitionsgespräche mit der CDU rundweg ab. Stattdessen, so verkündete er, wolle er mit den Grünen eine Minderheitsregierung bilden, toleriert von der PDS. "Höppner hat sich aus zwei Gründen für dieses neue Format entschieden", erklärt der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann. "Zum einen war das Verhältnis zwischen ihm und Christoph Bergner zerrüttet. Zum anderen hat sich für die vormals oppositionelle SPD damit die Möglichkeit ergeben, nicht nur in die Regierung einzutreten, sondern das Amt des Ministerpräsidenten selbst übernehmen zu können."

Reinhard Höppner: "Mehrheit links von der CDU"

Eine Zusammenarbeit mit der SED-Nachfolgepartei hatten bis zu diesem Zeitpunkt alle demokratischen Parteien strikt ausgeschlossen. Sogar Höppner selbst. Eine Tolerierung durch die einstige DDR-Staatspartei wird es, so Höppner im Wahlkampf, "mit mir nicht geben". Christoph Bergner warf seinem Kontrahenten nun Wahlbetrug vor. Höppner reagierte gelassen: Das Wählerwort habe eindeutig eine "Mehrheit links von der CDU" ergeben.

Das "Magdeburger Modell"

Einen Monat später, am 27. Juli 1994, wurde Reinhard Höppner dann tatsächlich zum Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt gewählt. Für seine Wahl benötigte er die Stimmen der PDS-Abgeordneten theoretisch nicht. Im dritten Wahlgang genügte ihm die einfache Mehrheit. Die meisten PDS-Abgeordneten enthielten sich. Höppners Zusammengehen mit der PDS stellte jedoch einen Tabubruch dar. Entsprechend harsch fiel die Kritik aus. Bundeskanzler Helmut Kohl etwa sah den "Konsens aller Demokraten" von der SPD verraten und wetterte gegen die "rotlackierten Faschisten" im Landtag. "Dieses Bündnis passte aber auch der SPD unter Gerhard Schröder nicht ins Konzept", sagt Everhard Holtmann. "Die Magdeburger SPD hat sich dennoch durchgesetzt."

Für Rudolf Scharpings Niederlage gegen Helmut Kohl bei der Bundestagswahl im Herbst 1994 wurde dann jedenfalls auch Höppner von seinen Genossen von der Bundes-SPD verantwortlich gemacht.

"Der Magdeburger Dom steht noch"

Indes wollte niemand darauf wetten, dass Höppners "Magdeburger Modell" angesichts der Spannungen zwischen den beiden Koalitionsparteien und den "Schmuddelkindern" von der PDS sowie der Fundamentalopposition der CDU vier Jahre halten würde. Die Zusammenarbeit zwischen den drei Parteien, stellte der damalige Grünen-Chef Jürgen Trittin bei einem Besuch in Magdeburg jedoch fest, funktioniere im Alltagsgeschäft "fast schon erschreckend normal". "Der Magdeburger Dom steht noch", titelte die "tageszeitung" 1996 amüsiert. Petra Sitte, einstige PDS-Fraktionschefin in Magdeburg, meinte: "Wir haben dem Osten Aufmerksamkeit verschafft, wenn auch mit einem kontroversen Ausgangspunkt." Dass diese ungewöhnliche Zusammenarbeit überhaupt möglich war, hat unter anderem damit zu tun, das alle beteiligten Personen aus Sachsen-Anhalt stammten. Man kannte sich, teils schon jahrelang. "Anders als in anderen Sektoren des politisch-administrativen Systems im Osten Deutschlands hat in Sachsen-Anhalt ein Elitentransfer von West nach Ost so gut wie nicht stattgefunden", sagt Politikwissenschaftler Holtmann.

Petra Sitte, DIE LINKE, im Deutschen Bundestag
Petra Sitte (PDS): "Wir haben dem Osten Aufmerksamkeit verschafft." Bildrechte: Deutscher Bundestag / Lichtblick/Achim Melde

Das "Magdeburger Modell" wurde 1998 sogar fortgeführt

Die Minderheitsregierung von Reinhard Höppner hielt tatsächlich bis zur nächsten Wahl. 1998 konnte die SPD sogar einen leichten Stimmenzuwachs verzeichnen, während die CDU auf 22 Prozent abstürzte. Allerdings verlor die SPD ihren Koalitionspartner, weil den Grünen der Einzug ins Parlament nicht mehr gelang. Höppner, der sich vor der Wahl klar gegen eine Koalition mit der CDU ausgesprochen hatte, bekam von der Berliner Parteizentrale dennoch die Anweisung, mit der CDU zusammenzugehen. Doch die Verhandlungen scheiterten erwartungsgemäß. Angeblich an der Frage, wie man mit der rechten DVU umgehen solle. Höppner, dessen SPD lediglich 40,5 Prozent der Landtagssitze auf sich vereinen konnte, votierte erneut für eine Minderheitsregierung, toleriert von der PDS. Und nun wurde er sogar mit den Stimmen der PDS zum Ministerpräsidenten gewählt.

Was war das "Magdeburger Modell"?

1994 bildete Reinhard Höppner von der SPD gemeinsam mit Bündnis'90/Die Grünen eine Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt, die von der PDS toleriert wurde. Diese Regierungsform wurde als "Magdeburger Modell" bezeichnet. 1998 tolerierte die PDS schließlich eine Minderheitsregierung der SPD, da die Grünen den Sprung in den Landtag verpasst hatten.

Reinhard Höppner: "Die PDS ist eine ganz normale Partei"

Es sei die "schmutzigste Wahl in einem deutschen Parlament seit 1933" gewesen, schimpfte der damalige CSU-Generalsekretär Bernd Protzner pflichtschuldig. Insgesamt aber waren die Reaktionen weitaus gelassener als noch 1994. Das "Magdeburger Modell" habe Deutschland verändert, hieß es, und ganz nebenbei den Sozialdemokraten eine Option für parlamentarische Mehrheiten im Osten verschafft. "Die PDS ist eine ganz normale Partei", befand jedenfalls Reinhard Höppner. "Mit diesem Tolerierungsbündnis war Sachsen-Anhalt ein bundespolitischer Vorreiter, denn es ebnete den Weg für rot-rote Koalitionen in anderen Bundesländern und für einen linken Ministerpräsidenten in Thüringen", schreibt Hendrik Träger in "Politik und Regieren in Sachsen-Anhalt".

2002: Ende des "Magdeburger Modells"

Dennoch beschlossen beide Parteien, genervt von den ständigen Debatten über die angeblich instabilen Magdeburger Verhältnisse, ihre "wilde Ehe" nach der Landtagswahl 2002 zu beenden. "Jetzt ist Schluss", zürnte SPD-Fraktionschef Jens Bullerjahn. Die SPD zog ohne klare Koalitionsaussage in den Wahlkampf. Die Umfrageinstitute prognostizierten ihr immerhin ein Ergebnis knapp unterhalb der absoluten Mehrheit. Doch es kam anders: Höppners SPD verlor fast 16 Prozent der Stimmen. Die Sieger hießen Wolfgang Böhmer von der CDU, die fast 38 Prozent errang, und Cornelia Pieper von der FDP. "Insgesamt war das 'linke Lager' in Sachsen-Anhalt nicht mehr mehrheitsfähig", befand Sven Thomas in "Das Ende des 'Magdeburger Modells'". "Zwei Gründe lassen sich dafür erkennen. Zum Ersten riss der Kontakt zur politischen 'Mitte' ab. Zum Zweiten ließ die Mobilisierungskraft 'linker Visionen' deutlich nach. 160.000 SPD/PDS-Wähler blieben den Wahlurnen fern. Erstmals seit 1994 errang das 'bürgerliche Lager' in Sachsen-Anhalt wieder eine eigene Mehrheit." Eine "Abwahl des 'Magdeburger Modells'" aber hatte keineswegs stattgefunden, schreibt Sven Thomas: "Die SPD in Sachsen-Anhalt erlitt lediglich eine 'normale' Wahlniederlage." CDU und FDP koalierten, Wolfgang Böhmer wurde neuer Ministerpräsident.

 Wolfgang Böhmer (CDU), rechts, erhält erste Glückwünsche nach der Wahl zum neuen Ministerpäsidenten von seinem Vorgänger, Reinhard Höppner (SPD), links, im Landtag von Sachsen-Anhalt in Magdeburg am Donnerstag, 16. Mai 2002.
Reinhard Höppner gratuliert Wolfgang Böhmer nach dessen Wahl zum neuen Ministerpäsidenten am 16. Mai 2002 Bildrechte: imago images / Eckehard Schulz

Dieses 'Magdeburger Modell' war tatsächlich eine Art historischer Türöffner für neue Koalitionsformate, denn bis dato waren die Koalitionsmöglichkeiten doch vergleichsweise begrenzt. Es war schon ein Vorgriff auf eine sich anbahnende weitere Auffächerung des deutschen Parteiensystems, dass sich immer erst auf der Landesebene zeigt, um dann mit einer gewissen Verzögerung auf die Bundesebene übertragen zu werden.

Politikwissenschaftler Everhard Holtmann

Wann wurde die erste große Koalition in Sachsen-Anhalt gebildet?

Bei der Landtagswahl 2006 verloren CDU und FDP ihre Mehrheit im Parlament und konnten ihre gemeinsame Regierungsarbeit nicht fortführen. Da die SPD eine Koalition mit der Linkspartei bereits vor der Wahl definitiv ausgeschlossen hatte, gab es nur eine einzige Möglichkeit: eine von CDU und SPD gebildete Regierung.

2006: "Wir schlafen früher ein"

2006 sorgte im Wahlkampf vor allem ein Plakat der Grünen für Aufregung. In satirischer Verfremdung der Imagekampagne Sachsen-Anhalts unter dem Titel "Wir stehen früher auf" waren auf dem Werbeplakat der Grünen die Fotos der schlafenden Spitzenkandidaten Wolfgang Böhmer (CDU), Jens Bullerjahn (SPD) und Wulf Gallert (Linkspartei) abgebildet. Darunter stand: "Wir schlafen früher ein".

Tatsächlich schleppte sich der Wahlkampf zäh dahin. In Ermangelung großer Themen hatten die drei großen Parteien ihre Spitzenkandidaten in den Vordergrund gerückt. Die CDU stellte Wolfgang Böhmer als soliden und überaus verlässlichen Landesvater dar. Fast die Hälfte der Bürger Sachsen-Anhalts waren mit seiner Arbeit zufrieden. Am Ende gewann die CDU die Wahl klar vor PDS und SPD. Die FDP verlor dagegen fast sechs Prozent im Vergleich zur letzten Wahl. Die Wahlbeteiligung lag bei nur knapp 45 Prozent. Noch nie hatten bei einer Landtagswahl in der Bundesrepublik so wenige Bürger ihre Stimme abgegeben.

Noch am Wahlabend war jedenfalls klar, dass CDU und FDP ihre Mehrheit im Parlament verloren hatten. Da die SPD eine Koalition mit der Linkspartei bereits vor der Wahl definitiv ausgeschlossen hatte, gab es nur eine einzige Möglichkeit: eine von CDU und SPD gebildete Regierung. Wolfgang Böhmer blieb Ministerpräsident. Sachsen-Anhalt wurde nun erstmals von einer großen Koalition regiert.

Ministerpräsident Prof. Wolfgang Böhmer, 2011
Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt von 2002 bis 2011 Bildrechte: imago/eventfotografen.de

2011: "Magdeburger Modell" oder große Koalition in Sachsen-Anhalt?

2011 geisterte plötzlich eine Wiederbelebung des "Magdeburger Modells" durch den Wahlkampf in Sachsen-Anhalt. Obwohl CDU und SPD bemüht waren, ihre Erfolge in den vergangenen fünf Jahren herauszustellen, mochte die SPD eine Koalition mit der Linkspartei nicht prinzipiell ausschließen, wenn der Ministerpräsident von der SPD käme. Da die SPD in Umfragen aber zunächst deutlich hinter der Linkspartei lag und diese wiederum auf dem Amt des Ministerpräsidenten bestand, galt alles andere als eine große Koalition als unwahrscheinlich. Dann aber holte die SPD auf und überflügelte sogar die Linkspartei. Die Grünen signalisierten in dieser Situation, ein rot-rotes Bündnis unterstützen zu wollen. Am Wahlabend lag die SPD dann aber doch knapp hinter der Linkspartei. Eine rot-rot-grüne Koalition war damit ausgeschlossen. SPD und CDU bildeten erneut eine große Koalition.

Rainer Haselhoff
Rainer Haselhoff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt seit 2011 Bildrechte: Sachsen-Anhalt.de/ Ines Berger

"Kenia-Koalition" in Sachsen-Anhalt

Nach der Landtagswahl von 2016 wurde in Sachsen-Anhalt eine neue und bundesweit bislang einmalige Koalition auf Landesebene geschmiedet, die sogenannte "Kenia-Koalition". Aus dem Wahlergebnis ergab sich bereits am Wahlabend nur eine einzige realistische Option, nämlich das Zusammengehen von CDU, SPD und Bündnis'90/Die Grünen. Nach zähen Verhandlungen, die sich über Wochen hinzogen, wurde im April 2016 der Koalitionsvertrag zwischen den drei Parteien unterzeichnet. "Es war ein aus der Not geborenes Zweckbündnis", konstatiert Everhard Holtmann. "Wenn man sich die Prämissen der an 'Kenia' beteiligten Parteien vor Augen führt, eben mit der AfD, die immerhin 25 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, keine Kooperation oder Koalition einzugehen, dann war die Gründung der 'Kenia-Koalition' im Grunde genommen alternativlos."

Politikwissenschaftler Everhard Holtmann aus Halle bei MDR INFO
Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann Bildrechte: Dorit Kristine Arndt/MDR

Nach dem "Magdeburger Modell" hatte das kleine Bundesland Sachsen-Anhalt mit der "Kenia-Koalition" nun erneut "koalitionspolitisches Neuland" (Hendryk Träger) betreten und sich damit wieder einmal als bundesweiter Trendsetter erwiesen.

Was ist eine "Kenia-Koalition"?

Nach der Landtagswahl von 2016 wurde in Sachsen-Anhalt eine neue und bundesweit einmalige Koalition geschmiedet, die sogenannte "Kenia-Koalition". Aus dem Wahlergebnis ergab sich nur eine einzige realistische Option, nämlich das Zusammengehen von CDU, SPD und Bündnis'90/Die Grünen, da alle demokratische Parteien eine Zusammenarbeit mit der AfD, die 25 Prozent auf sich vereinen konnte, ausgeschlossen hatten.

2021: "Simbabwe-Koalition"?

Das könnte nach der Wahl am 6. Juni 2021 erneut der Fall sein. Nach den jetzigen Umfragen ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Neuauflage der "Kenia-Koalition" kommen wird, doch ziemlich groß. "Sollte es rechnerisch jedoch nicht reichen, käme möglicherweise auch das sogenannte 'Simbabwe-Modell', also eine Koalition aus vier Parteien unter Einbeziehung der FDP, in Betracht", sagt Everhard Holtmann. "Das würde aber den regierungsinternen sachpolitischen Ausgleich sicherlich noch einmal erschweren, also die Hürden für eine reibungslose parlamentarische Arbeit entsprechend erhöhen." Sachsen-Anhalt aber hätte damit wieder einmal eine neue Koalitionsmöglichkeit ins Spiel gebracht.

In welchem Bundesland regiert eine "Simbabwe-Koalition?"

Bislang noch nirgendwo. Allerdings nach der Wahl am 6. Juni 2021 eine "Simbabwe-Koalition" in Sachsen-Anhalt gebildet werden, wenn es für die regierende "Kenia-Koalition" nicht reicht. Dann würden SPD, CDU und Bündnis'90/Die Grünen noch die FDP in ihre Koalition einbinden. Dies wäre dann eine "Simbabwe-Koalition".

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 03. Mai 2021 | 21:45 Uhr