Ungarn 89
Dietmar Schumann Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Sommer der Ausreise Flucht über Ungarn – wie der Korrespondent des DDR-Fernsehens diese Zeit erlebte

09. November 2020, 13:09 Uhr

Am 27. Juni 1989 durchtrennen die Außenminister Österreichs und Ungarns den Grenzzaun. Es ist ein Symbolbild: Denn tatsächlich beginnt Ungarn schon im Mai, seine Sicherungs-Anlagen abzubauen. Am 10. September 1989 fällt der "Eiserne Vorhang" tatsächlich. Mehr als 30.000 Ostdeutsche gehen bis zum Ende des Sommers über Ungarn in den Westen. Dietmar Schumann leitet damals das Büro des DDR-Fernsehens in Budapest.

Das DDR-Fernsehen berichtet damals über die Flüchtlinge und nennt sie Opfer einer "hysterischen Kampagne der westdeutschen Massenmedien". Doch das ist erst im September 1989. Damals berichtet Dietmar Schumann für das DDR-Fernsehen über vom Westen "gekaufte Storys" und über einen "Medienkrieg gegen die DDR" im Budapester Stadtteil Zugliget. Seit Wochen versammeln sich dort, rings um die Kirche "Zur Heiligen Familie", DDR-Flüchtlinge unter den Augen der Weltpresse. "Man musste nicht weit laufen, als die Flüchtlinge da waren, um sie zu begleiten. Und damit man gute Bilder bekam, haben einige unseriöse westdeutsche Journalisten sich auch Storys gekauft. Die haben den Leuten 50 Mark gegeben und haben gesagt, jetzt fahren wir mal mit unserem Mercedes zur Grenze, da geht ihr mal über die Grenze und wir fotografieren das."

Flucht mit Tränen in den Augen

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Dietmar Schumann, Korrespondent des DDR-Fernsehens in Ungarn, am 21. September 1989 Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Der spätere ZDF-Reporter und Auslandskorrespondent Dietmar Schumann berichtet seit 1984 für das DDR-Fernsehen aus Ungarn. Jedes Jahr beobachtet er DDR-Bürger, die über die bundesdeutsche Botschaft in Budapest ihr Land verlassen. Aber jetzt, und mit Beginn der Sommerferien in der DDR, werden es immer mehr. Genau wie ihre West-Kollegen sind Dietmar Schumann und sein Kameramann jeden Tag unterwegs und drehen die DDR-Flüchtlinge: "Es sind viele mit Tränen in den Augen weggegangen. Es waren viele junge Leute dabei, viele Arbeiterfamilien, Genossenschaftsbauern, Lehrerfamilien... Ich habe mit ihnen gesprochen, und die haben gesagt: Wir halten das nicht mehr aus in der DDR, diese ständige Gängelei, die fehlende Reisefreiheit, die Reglementierungen."

Adlershof berichtet nicht über die DDR-Flüchtlinge

"Wir haben ja auch fertige Stücke nach Berlin-Adlershof überspielt, da wurde wenig davon gesendet, das ist dann dort in die Mülltonne getreten worden." Lediglich kurze Meldungen aus Ungarn schaffen es in die DDR-Nachrichten. Das ganze Ausmaß der Flüchtlingsbewegung wird im DDR-Fernsehen verschwiegen. "Die Genossen in Berlin haben sich das Material damals angeschaut und sind erstarrt vor Schreck, als sie die Massen gesehen haben. Das sind ja Tausende Leute damals gewesen, und sie haben die Welt nicht mehr verstanden und haben es aber nicht gewagt, es zu senden. Und ich denke, dass der Druck im Sommer '89 aus der Agitationsabteilung, dass die enormen Druck auf die Aktuelle Kamera gemacht haben, das bloß nicht senden, um nicht vielleicht noch mehr Leute zu animieren, wegzugehen aus der DDR."

Alles von Bonn aus geplant?

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Flüchtlingslager in Zugliget Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Erst einen Monat später berichtet das DDR-Fernsehen – wie die Bundesrepublik die Versorgung der DDR-Flüchtlinge generalstabsmäßig geplant habe, wie alles von Bonn aus organisiert worden sei. "Da hat die Bundesregierung schon alle Register gezogen. Die DDR war am Ende total hilflos. Und die Bundesrepublik hat ihre gesamte Propaganda und politische Maschinerie in Szene gesetzt, um die Sache für sich zu regeln. Aber das ändert alles nichts an der Tatsache, dass Tausende Leute weg wollten." Zu Hochzeiten am Ende des Sommers sind es teilweise bis zu 500 Flüchtlinge, die täglich im Lager der Malteser in Zugliget ankommen. "Mir tat es um jeden einzelnen leid. Ich hätte sie am liebsten animiert, dazubleiben, weil es gab unter Anhängern der SED ja auch Perestroika-Anhänger die Idee, eine wirklich demokratische DDR aufzubauen. Das war sicherlich illusorisch und sehr naiv gedacht und viel zu spät, aber wie sollte man das verwirklichen können, wenn die Menschen aus der DDR alle weggehen?"

DDR-Konsul im Flüchtlingslager

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Campingwagen des DDR-Konsuls in Budapest Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

DDR-Botschaftspersonal will seine geflohenen Landsleute schließlich persönlich zur Rückkehr überreden, erinnert sich Schumann. In einem Campingwagen soll der DDR-Konsul Geflüchtete mit Straffreiheit locken, und sie zur Rückkehr in die DDR bewegen. "Das war für mich das Bild im Sommer '89, die kaputte, untergehende DDR, repräsentiert durch einen Konsul im Campingwagen und Hunderte von Menschen aus der DDR, die das Land verlassen wollten. Das hat sich mir für immer eingeprägt, das war für mich das Bild, das Ende der DDR."

Westkarriere des Ostjournalisten

Für Dietmar Schumann geht es ab Oktober 1990 bei seinen einstigen Westkollegen weiter. Für das ZDF wird er als Korrespondent aus Moskau, Afghanistan und Israel berichten. Zu seiner Arbeit, auch als DDR-Korrespondent, steht er bis heute. "Wir sind in der DDR aufgewachsen, waren Parteijournalisten. Für jeden von uns, für mich natürlich auch, war das ein Lernprozess und ein Erlebnisprozess, sich von der DDR zu verabschieden, sich auch von der Sprache der DDR zu verabschieden, das hat schon eine Weile gedauert."

Am 10. September 1989, um Mitternacht, öffnet Ungarn seine Grenzen Richtung nach Westen für immer. Noch zahlreiche DDR-Bürger verlassen bis zum Mauerfall über Ungarn ihre Heimat.

Über dieses Thema berichtete der MDR im TV in "MDR Zeitreise" 21.07.2019 | 22:05 Uhr