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Paragraf 218Die Abtreibungsdebatte nach der Deutschen Einheit

02. Dezember 2020, 13:13 Uhr

Die Vorraussetzungen für einen Schwangerschaftsabbruch sind gesetzlich geregelt: Die Empfängnis darf nicht älter als zwölf Wochen her sein, der Abbruch muss durch einen Arzt erfolgen und die Frauen müssen sich zuvor beraten lassen. Diese gesetzliche Grundlage wurde am 29. Juni 1995 vom Bundestag beschlossen. Doch der Weg bis dahin, dass Frauen überhaupt legal abtreiben durften, war ein langer Kampf von Frauenrechtlerinnen wie Alice Schwarzer.

Zwei Gesetze - zwei Haltungen

Es war eine endlose Geschichte, die immer wieder die Gerichte beschäftigte und im Bundestag für heftige Auseinandersetzungen sorgte. Nach dem Fall der Mauer musste eine gesetzliche Abtreibungsregelung für das wiedervereinigte Deutschland gefunden werden. Die Debatte: Fristenlösung wie in der DDR oder Indikationslösung wie in der Bundesrepublik? Ein Thema voller Sprengkraft, das im Staatsvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik vom 21. Juni 1990 nicht erwähnt wurde. Lediglich der Passus "Die Belange von Behinderten und Frauen werden berücksichtigt [...]" konnte als Hinweis auf einen schwelenden Konflikt gedeutet werden. Welche Dringlichkeit das Thema besaß, zeigte eine Demonstration vor der Volkskammer.

Proteste im Osten ...

Ostdeutsche Frauen und Männer zogen am 22. April 1990 vor das DDR-Parlament in Berlin-Ost. Dabei überreichten Vertreterinnen des frisch gegründeten "Unabhängigen Frauenverbands" (UFV) mehr als 17.000 Unterschriften gegen den Paragraphen 218 des westdeutschen Strafgesetzbuches. Außerdem erhielt DDR-Frauenministerin Christa Schmidt bis zum 21. Juni 26.500 Postkarten:

Werte Frau Ministerin! In einer 'hautnah'-Sendung des Deutschen Fernsehfunks haben Sie appelliert, Ihre Bemühungen um das Fortbestehen des Gesetzes über den Schwangerschaftsabbruch zu unterstützen. Mit meiner Unterschrift spreche ich mich für diese Fristenlösung aus. Einen gesamtdeutschen § 218 darf es nicht geben!

... und auch im Westen

Auch die Frauen im Westen mischten sich inzwischen öffentlich in die Debatte ein. Mitte Juni gingen in Bonn 10.000 Frauen auf die Straße, "Kinder oder keine, bestimmen wir alleine" hieß es auf Plakaten oder "Weg mit Paragraph 218". Zeitgleich demonstrierten Frauen aus Ost und West am Brandenburger Tor unter dem Motto "Hier kommt das Abtreibungsgesetz nicht über die Grenze." Die breiten Proteste und das große öffentliche Interesse waren auch der Grund dafür, warum es das Thema schließlich auch in den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 schaffte: Er legte fest, dass bis Ende 1992 eine gemeinsame, bundeseinheitliche Lösung gefunden werden musste. So lange galten in Ost wie West die bisher gültigen Gesetze.

Dem Ende der Debatte folgt eine Klage

Der Bundestag rang sich schließlich am 26. Juni 1992 mit 355 Ja-, 283 Nein-Stimmen und 16 Enthaltungen zu einem Modell durch, das eine Fristenlösung mit Beratungspflicht vorsah. Demnach galt ein Abbruch nach einem Beratungsgespräch nicht als rechtswidrig.

Dagegen klagten jedoch Bayern und 249 Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Das Bundesverfassungsgericht kippte das Gesetz im Mai 1993 als in wesentlichen Teilen verfassungswidrig. Das Grundgesetz verpflichte den Staat, menschliches Leben - auch das des Ungeborenen - zu schützen.

So ging die Debatte um den Schwangerschaftsabbruch in eine neue Runde und mündete im Juni 1995 in das "Schwangeren- und Familienhilfe-Änderungsgesetz". Von den bekannten Ausnahmen auf der Grundlage einer medizinischen oder kriminologischen Indikation ist nun ein Schwangerschaftsabbruch nach einem Beratungsgespräch nicht strafbar. Offen ließ der Gesetzgeber jedoch die Frage, ob er gesetzwidrig ist.

Rückblick: Abtreibung in Ost und West

Wie sah es eigentlich im geteilten Deutschland mit dem Thema Abtreibung aus? Während die DDR-Volkskammer 1972 eine weitgehende Fristenlösung verabschiedete und somit Schwangerschaftsabbruch mit vorheriger Beratung legalisierte, ging der Gesetzgeber in der Bundesrepublik andere Wege.

Die Frauen, die sich 1971 in der Bundesrepublik öffentlich zu einer Abtreibung bekannten, riskierten nach damaliger Gesetzeslage Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren. Doch trotz vereinzelter Hausdurchsuchungen wurde keine der Frauen angesichts des großen öffentlichen Interesses weiter belangt.

Beginn einer heftigen Debatte, die die westdeutsche Gesellschaft nachhaltig prägte, waren Bekenntnisse im "Stern": "Wir haben abgetrieben! 374 Frauen halten den § 218 für überholt und erklären öffentlich: 'Wir haben gegen ihn verstoßen'". So war es nachzulesen 1971 im "Stern" - obwohl sich einige der Frauen lediglich aus Solidarität für die Sache "geoutet" hatten, ohne je abgetrieben zu haben, wie sich Jahrzehnte später herausstellte.

Dennoch hatte die Veröffentlichung dieses Manifests, angestoßen von der Journalistin Alice Schwarzer nach dem Vorbild einer Kampagne Hunderter französischer Frauen im Nachbarland, einen Damm gebrochen: Eine erbitterte Abtreibungsdebatte entflammte, denn trotz 500.000 illegaler Schwangerschaftsabbrüche jährlich war das Thema bislang öffentlich tabu. Wurden Schwangerschaften von Ärzten oder Laien abgebrochen, gingen beide Seiten enorme Risiken ein. Alle bewegten sich in der Illegalität und riskierten Strafverfolgung. Zudem lebten die betroffenen Frauen mit der Gefahr gesundheitlicher Risiken und Folgeschäden bei verpfuschten Eingriffen.

Das Tabu-Thema Abtreibung stand nun ganz oben auf der öffentlichen Agenda, die Fronten zwischen den Lagern waren verhärtet. Auf der einen Seite standen die Frauen, die die Abtreibungspraktik aus der Illegalität holen wollten. Sie argumentierten, es ginge nicht darum, Abtreibungen zu propagieren, sondern die Bedingungen zu verbessern, unter denen sie ausgeführt wurden - und zwar durch Ärzte, bezahlt von den Krankenkassen.

Auf der anderen Seite die Abtreibungsgegner aus Kirche, Politik und Medizin. Sie führten ethische, medizinische oder soziale Aspekte ins Feld. Am 12. Februar 1976 stimmte der Bundestag für einen Kompromiss. Danach war Abtreibung in jedem Stadium der Schwangerschaft gesetzeswidrig. Ausgenommen blieben jedoch Fälle mit medizinischer, eugenischer, sozialer oder ethischer Indikation.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im Radio:MDR Aktuell | 14. April 2020 | 09:12 Uhr