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ErfahrungsberichtDer Kronzeuge

06. Mai 2019, 11:53 Uhr

Günter Polauke war als Bürgermeister an der Fälschung der Kommunalwahlen 1989 beteiligt. Er ist der Einzige, der darüber spricht.

"Es gab sechs Wochen vor der Wahl eine Einbestellung ins 'Rote Rathaus' zu einer Führungsperson", erinnert sich Günter Polauke, der 1989 Bezirksbürgermeister von Berlin-Treptow war, an diese mysteriöse Zusammenkunft. Im Parteijargon spricht man von der "letzten Ölung". "Und da bekamen wir kleine Zettel, auf denen Zahlengruppen draufstanden - das waren die zu erbringenden Ja-Stimmen im Stadtbezirk und die zu erbringenden Wahlbeteiligungsstimmen. Demzufolge wusste man, man kann so und so viele Gegenstimmen haben."

Szene wie aus einem billigen Polit-Krimi

Es wirkt wie eine Szene aus einem billigen Polit-Krimi: Da werden den Berliner Bezirksbürgermeistern einige Wochen vor der Kommunalwahl geheime Zettel übergeben, auf denen bereits das Wahlergebnis aufgeschrieben ist - knapp 99 Prozent Zustimmung für die "Kandidaten der Nationalen Front". Aber so hat es sich tatsächlich abgespielt. Und nicht nur in Berlin, sondern überall in der DDR. Günter Polauke ist bis heute der einzige, der darüber spricht.

Hoffnungsvoller junger Kader

Günter Polauke ist damals 38 Jahre alt. Er ist einer der jüngsten Bürgermeister in der Republik und gilt als ein junger, hoffnungsvoller Kader. Die Kommunalwahl 1989 ist seine erste als Bürgermeister. "Es gab immer wieder Besprechungen bei der SED, wo man sich dann manchmal die Frage gestellt hat, ob bei Schabowski oder anderen Funktionären: Wissen die überhaupt, was wir tun sollen? Die Sprache war suggestiv, also wir treten für ordentliche Wahlen ein und kämpfen für eine hohe Wahlbeteiligung, das ist ja ein normales Ziel eigentlich, aber das wir das Wahlergebnis schon in der Tasche hatten ... Ich bin dennoch nicht in Zweifel gekommen", erzählt Günter Polauke in der MDR-TV-Dokumentation "Damals in der DDR - Freiheit ohne Grenzen".

Mehr Gegenstimmen als erlaubt

Am 7. Mai ist Günter Polauke seit dem frühen Morgen in seinem Bürgermeisterzimmer. Am Vormittag erhält er das Ergebnis aus dem Treptower Sonderwahllokal, in dem die Bürger ihre Stimme abgegeben haben, die heute verhindert sind. "Allein dort gab es schon mehr Gegenstimmen, als ich insgesamt hätte abgeben dürfen", erinnert er sich. "Ich bin daraufhin ins ‚Rote Rathaus’ gefahren und habe gesagt: 'Genossen, hier ist das Ergebnis Sonderwahllokal, wir können das so nicht machen.' Und bin dann mit weiteren 300 Gegenstimmen dort raus marschiert, die ich abrechnen durfte."

Geschacher um Gegenstimmen

Günter Polauke ahnt, dass auch diese zusätzlichen Gegenstimmen nicht ausreichen werden. Und am Abend, nach Schließung der Wahllokale, bestätigen sich seine Befürchtungen: Der Anteil der Gegenstimmen in seinem Stadtbezirk liegt bei etwa sechs Prozent. "Ich habe dann meinen Stellvertreter angewiesen, im 'Roten Rathaus' anzurufen mit dem Hinweis: 'Treptow meldet das reale Ergebnis!' Der kam mit einem hochroten Kopf zurück, ist zusammengedonnert worden. Hatte aber weitere 200 Gegenstimmen bekommen." Doch auch die sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Strafbar auch nach DDR-Recht

Bürgermeister Polauke weiß nicht, was er tun soll. Er ist hin und her gerissen: Soll er das geforderte oder das reale Wahlergebnis verkünden? Am nächsten Morgen fügt er sich der Parteidisziplin: Statt des realen Wahlergebnisses schreibt er die von der SED geforderten Zahlen ins Wahlprotokoll. Mit seiner Unterschrift hat er sich auch nach DDR-Recht strafbar gemacht. Er hat eine Wahl gefälscht. Dabei spielt seine Unterschrift schon gar keine Rolle mehr: Im "Neuen Deutschland" ist das Endergebnis längst verkündet ...

Verurteilt wegen Wahlbetrug

Im Herbst 1989 tritt Günter Polauke von seinem Amt zurück und nimmt einen Job in der Leergutabteilung eines Supermarktes an. 1993 wird er wegen Wahlfälschung zu sechs Monaten Freiheitsstrafe, ausgesetzt auf zwei Jahre zur Bewährung, verurteilt. Polauke nimmt das Urteil sofort an. In den folgenden Jahren macht er noch eine kleine Karriere – er wird leitender Mitarbeiter in einer großen Firma für Gebäudemanagement. Heute ist er Rentner.

Die Ereignisse um die Kommunalwahl 1989 haben ihn nie ganz losgelassen. "Ich muss ganz klar bekennen: Ich hätte Nein sagen können. Was wäre mir passiert? Mir persönlich nichts! Vielleicht wäre eine Parteikontrollkommission vier Wochen später über Treptow hergefallen mit der Frage: Was ist los in Treptow? Da wäre ich vielleicht abgesetzt worden und würde irgendwo was anderes gemacht haben. Also eigentlich wäre mir nichts passiert. Darüber denke ich oft nach."

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV:05.05.2019 | 19:30 Uhr

(zuerst veröffentlicht am 04.05.2009)