Zur Geschichte des DOK-Festivals in Leipzig Die Siebziger | Von Jane Fonda bis Dean Reed

25. Oktober 2019, 16:30 Uhr

Das Leipziger Filmfest für Dokumentarfilme ist in den 1970er-Jahren stark politisiert. Wie werten das die ausländischen Festival-Besucher? Wie wird das Festival international wahrgenommen?

1970 - Kritik am "Prinizip der Selbstnominierung"

Das Prinzip der "Selbstnominierung" gerät in die Kritik. Fertig "geschnürte" Filmpakete, die aus den sozialistischen Ländern eintreffen, entwickeln sich zum Qualitätsproblem. Die Auswahlkommission kann zwar Wünsche hinsichtlich der Themen und Genre äußern, aber die Auswahl nicht beeinflussen.

1971 - "Kämpfende Kameras" und Dean Reed

Auch in diesem Jahr findet das Festival unter zunehmender Einmischung der Ministerien in die Filmauswahl und Programmgestaltung statt. So wird beispielsweise der "Joris Ivens Preis" aufgrund der "antisowjetischen Haltung" seines Namensgebers abgeschafft und in den "Kämpfende Kamera"-Preis umbenannt. Ivens, zuvor von Parteivertretern hofiert, hatte Partei für China genommen, was von Seiten des Regimes ungern gesehen wurde. Prominenz und "Glamour" erlebt Leipzig durch die Anwesenheit Dean Reeds.

1972 - Politische Instrumente

Das Leipziger Festival soll die "Überlegenheit der sozialistischen Staatengemeinschaft auf allen Gebieten der fortschreitenden sozialistischen Integration mit künstlerischen Mitteln erlebbar machen". Es soll "die weltverändernde Kraft des Marxismus-Leninismus ausstrahlen". Außerdem schreiben die Veranstalter am 14.12.1972 an das ZK der SED, das Festival werde nicht den Antrag auf Anerkennung als A-Festival stellen, "um den Repräsentanten antisozialistischer Ideologien die Möglichkeit zu nehmen, auf der Grundlage eines internationalen Reglements in das Festival einzudringen und sich dort langfristig zu etablieren".

1973 - "Man denkt nicht an Filme, sondern an Politik"

Es gründet sich das "Komitee der Internationalen Leipziger Woche für Dokumentar- und Kurzfilm". Präsidentin ist Annelie Thorndike, als Vize- und Festivaldirektor wird Ronald Trisch ernannt, Vize bis 1983 ist außerdem Karl Eduard von Schnitzler, Chefkommentator des DDR-Fernsehens, der politisch Einfluss nehmen soll. Durch Thorndike wird erstmals der "Tag der antiimperialistischen Solidarität" eingeführt. Durch die Medien erhält Leipzig den Ruf eines "politischen Festivals". Die "Süddeutsche Zeitung" schreibt: "Bei keinem anderen Festival denkt man so wenig über Filme und so viel über die uns umgebende politische Realität nach."

1974 - Zensur und Prominenz

Die Zensur richtet sich nun nicht mehr nur auf die Themenauswahl bei den Gesprächsrunden. Vor Aufführung müssen viele Filmemacher nun auch Änderungen beim Schnitt und Kommentartext in Kauf nehmen, besonders solche, die Kritik an den sozialistischen Ländern äußern. Dennoch werden über 200 internationale Beiträge gezeigt. Sogar Besuch aus Hollywood kommt nach Leipzig: Jane Fonda zeigt ihren Vietnam-Film "Introduction to the Enemy" ("Vorstellung eines Feindes"). Festivalintern gibt es massive organisatorische Probleme. Besonders unzufrieden sind die Veranstalter erneut mit der Qualität der Filme.

1975 - Streitereien zwischen Ost und West

Die ARD nimmt mit eigenen Produktionen und eigener Delegation am Festival teil. Gezeigt werden soll die WDR-Produktion "Buchenwald – Häftlinge organisieren Widerstand". Die Festivalleitung sieht darin aber "nationalistische und gegen die DDR gerichtete Hetze" - im Film wird die Berliner Mauer gezeigt. Streitpunkt ist außerdem der Status des Senders Freies Berlin (SFB) sowie die Entsendung einer ARD-Delegation mit SFB-Direktor Erich Proebsters als Leiter derselben, da "Westberlin" und die "BRD" nicht als zusammengehörig aufgefasst werden. Nach achtstündiger Diskussion scheitern die Verhandlungen. Die ARD nimmt nicht am Festival teil. Allerdings beteiligt sich in diesem Jahr erstmals die BBC an der Filmwoche.

1976 - Biertisch statt Mitternachtsgespräch

Die Diskussionen werden gezielter vorbereitet, der "Leipziger Biertisch" löst die "Mitternachtsgespräche" ab. Von nun an findet ein einheitlicher Wettbewerb für Film- und Fernsehbeiträge statt. Der politische Einfluss von Partei und Staat zeigt sich erneut: So wird die Ausbürgerung Wolf Biermanns nicht offiziell thematisiert, es gibt lediglich eine inoffizielle Diskussion zwischen der Festivalleitung und Westberliner Filmstudenten. José Luandino Viera, Schriftsteller und Leiter des Fernsehens der Volksrepublik Angola, erhält einen Rohfilm und eine Kamera aus einer Spendenaktion. Der Sonderpreis der Jury geht an Patricio Guzmáns "Schlacht um Chile, Teil II - Der Staatstreich" (Chile).

1977 - Ein "unergiebiges Festival"?

In diesem Jahr vergibt nicht nur die Jury die Preise: Obwohl "Erzählung über einen Kommunisten" ("Povest' O Kommuniste" von I. Bessarabov und A. Kočetko), in dem es um Leonid Breshnew geht, nicht einmal im Wettbewerb läuft, erhält er doch eine Goldene Taube - ehrenhalber! Ein Vertreter der sowjetischen Delegation übte so lange Druck auf das Kulturministerium aus, bis der Film ausgezeichnet wurde. Der restriktive Eingriff sorgt für öffentliche Diskussionen, wie Wilhelm Roth in seinem Buch "Der Dokumentarfilm seit 1960" schreibt: "Eine konkret kaum beweisbare, aber in der Atmosphäre spürbare Ängstlichkeit der Veranstalter vor Auseinandersetzungen hat deshalb das diesjährige Jubiläumsfestival zu einem der unergiebigsten seit langem gemacht."

Anima 78

Das Festival zeigt 256 Filme aus 49 Ländern. Die Auswahlkommission moniert jedoch eine größere gestalterische Vielfalt. Anlässlich der Retrospektive "ANIMA 78 - Animationsfilm sozialistischer Länder" werden nicht nur 172 Filme gezeigt, sondern auch viele der Original-Requisiten und Puppen ausgestellt. Letztendlich kommen 36.000 Besucher zum Festival.

1979 - Revolutionäre in Leipzig?

Eine Tribüne für Filme, "die sich gegen kolonialistische Unterdrückung, Neokolonialismus, Rassismus wenden und die für antiimperialistische Solidarität eintreten", soll Leipzig sein. Die Revolution drückt sich überwiegend in Filmen aus, die Elend und Krieg ungeschönt abbilden. Auf Druck der Kulturabteilung des ZK wird der langjährige Ehrengast Joris Ivens zur "persona non grata" erklärt, der seine Sympathie für China und den Maoismus nicht verbirgt. Der westdeutsche Film "Unversöhnliche Erinnerungen" von Klaus Volkenborn, Johann Feindt und Karl Siebig erhält neben der Goldenen Taube auch den Preis der Filmkritik. Marlies Grafs "Behinderte Liebe" ist einer der ersten Filme, die mit Tabuthemen (nicht offiziell vorhandene) Grenzen im Festivalprogramm sprengen. Zum UNO-Jahr des Kindes wird auf dem Festival ein "Tag des Kindes" organisiert.

Über dieses Thema berichtete der MDR im TV: 28.10.2019 | 23:05 Uhr