Tupolew Tu-144: Wie der sowjetische Concorde-Klon Luftfahrgeschichte schrieb

18. Juni 2021, 12:58 Uhr

Am 5. Juni 1969 flog erstmals ein ziviles Flugzeug so schnell wie der Schall. Es war die Tupolew Tu-144. An deren Entwicklung hatte ein Spionagering aus der DDR großen Anteil.

Am 31. Dezember 1968 ist der Sieg im technischen Kalten Krieg perfekt: eine weiß-blaue Tupolew Tu-144 steigt als erstes ziviles Überschallflugzeug in den Himmel und landet wieder sicher. Erst 61 Tage später, am 2. März 1969, startet der britisch-französische Konkurrent Concorde einen Prototypen in Toulouse zu seinem Jungfernflug. Für Moskau ist der Rekord ein bedeutendes Signal an den Westen. Die Sowjetunion legte am 5. Juni 1969 nach, als die Tu-144 bei einem Testflug auch tatsächlich die Schallmauer durchbricht.

"Auf der einen Seite stand die technologische Herausforderung, es zu schaffen", sagt Martin Schuermann von der Deutschen Gesellschaft für Luft und Raumfahrt. Er hat sich in seiner Dissertation mit zivilem Überschallflug beschäftigt. Auf der anderen Seite war das Projekt "ziviler Überschallflug" tief im Kalten Krieg auch politisch getrieben. Und damit scheinbar alles erlaubt – auch der Einsatz von Spionen. Denn mit der "Operation Brünnhilde" soll die DDR maßgeblich daran beteiligt gewesen sein, entscheidende Informationen für den Bau der Tupolew Tu-144 und damit für ihren Rekordflug zu beschaffen.

Startschuss: Das Duell der zivilen Überschallflugzeuge beginnt

Dessen Geschichte beginnt Jahre zuvor. In den 1960er-Jahren scheint es keine technologischen Hindernisse zu geben, die nicht überwunden werden konnten. Dass es möglich ist, schneller als der Schall zu fliegen, beweist bereits 1946 Chuck Yeager in einem Raketenflugzeug. Wieso also nicht auch ein Verkehrsflugzeug entwickeln, das diese Geschwindigkeit erreicht? Die Motivation bei den Sowjets ist besonders hoch.

Der Wettlauf zum Mond war nicht mehr zu gewinnen. Den Wettlauf um das erste zivile Überschallverkehrsflugzeug konnte man gewinnen.

Martin Schuermann, Deutsche Gesellschaft für Luft und Raumfahrt e.V.

Regierungschef Nikita Chruschtschow ist Befürworter des Überschall-Projekts. Im Juli 1963 überträgt der Minister für Luftfahrtindustrie der Sowjetunion dem Flugzeugbauer Alexej Andrjewitsch Tupolew die Aufgabe, ein Passagierflugzeug zu entwickeln, das schneller als der Schall fliegt. In nur viereinhalb Jahren soll das Unternehmen fünf flugtüchtige Überschallflugzeuge bauen. Großbritannien und Frankreich stecken zu dieser Zeit bereits mitten in der Entwicklung ihres Passagierflugzeugs mit Schallgeschwindigkeit: Sie basteln seit 1959 an der "Concorde". In einem Regierungsabkommen im November 1962 besiegeln Briten und Franzosen ihre Zusammenarbeit.

Tupolew Tu-144 – eine billige Blaupause der Concorde?

Dennoch sind am Ende die Sowjets schneller: Im Dezember 1968 wird die Tupolew Tu-144 zum Flugplatz Ramenskoje in der Nähe von Moskau gebracht. Fast 14 Tage lang das gleiche Spiel: Die Tupolew wird aus den Hangar gefahren und wieder hinein – das schlechte Wetter verhindert den Start. Man wartet und wartet, der Druck steigt bei den Konstrukteuren. Am 31. Dezember schließlich, auch wenn die Wetterlage immer noch nicht ideal ist, wagen die Russen den Jungfernflug. Die Tupolew hebt ab und verschwindet sofort im dichten Nebel. Nach 38 Minuten durchbricht die Tupolew wieder die Nebelwand und landet sicher. Der Eintrag in die Geschichtsbücher ist damit geschafft: Die Tupolew Tu-144 ist das erste zivile Überschallflugzeug der Welt.

Doch hatten sich die Sowjets diesen Sieg verdient? War die Tupolew wirklich alleiniges Werk sowjetischer Konstrukteurskunst? Mit seiner spitz zulaufenden abgeknickten Nase und den breiten Deltaflügeln mutet die Tupolew wie ein Raubvogel an. Von der gleichen Spezies scheint auch die Concorde zu sein. Sie startet nur 61 Tage später, am 2. März 1969. Die Tupolew Tu-144 – eine billige Blaupause der Concorde? Die Vorwürfe wurden nicht erst nach dem geglückten Jungfernflug laut. Als das Unternehmen Tupolew mit seinen ersten Modellen an die Öffentlichkeit trat, fiel die Ähnlichkeit zur Concorde auf. Die Tupolew Tu-144 wurde daher auch abschätzig "Concordsky" genannt.  Was ist dran an den Vorwürfen aus dem Westen?

DDR koordinierte "Operation Brünnhilde"

So einiges. Der Vorwurf der Industriespionage gilt heute als bewiesen. Die britische Zeitung "The Observer" enthüllte bereits 1969 die "Operation Brünnhilde": einen Spionagering, der von der DDR aus gelenkt wurde. Mehr als 20 Agenten von Geheimdiensten aus mehreren Staaten des Warschauer Paktes waren an der Operation beteiligt.

Eine Schlüsselfigur spielte dabei ein Schweizer Chemiker im Ruhestand: Jean-Paul Soupert bewirbt sich 1957 in der DDR, an der Technischen Hochschule für Chemie in Leuna-Merseburg. Doch anstatt der gewünschten Stelle als Chemiker wird dem Schweizer ein Spionage-Job in Brüssel angeboten. Er nimmt an und befördert fortan Informationen über die Concorde nach Ost-Berlin. Doch Soupert fliegt auf: Weil er in Brüssel in einem noblen Viertel wohnt und auf seinen Reisen nur in den erstklassigsten Hotels absteigt kommt ihm der belgische Geheimdienst auf die Schliche. 1964 wird Soupert verhaftet. Ihm wird eine hohe Gefängnisstrafe angedroht, worauf er die Concorde-Spionage gesteht und andere Agenten der "Operation Brünnhilde" verrät.

Darunter ist DDR-Agent Heribert Steinbrecher. Ende 1964 wird er in Paris verhaftet. Steinbrecher hat fast fünf Jahre lang Concorde-Mitarbeiter bezahlt, um an Informationen zu gelangen. Er wird zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Wenig später, Anfang 1965, muss der Leiter der sowjetischen Fluglinie Aeroflot sein Pariser Büro räumen, weil auch bei ihm Informationen über die Concorde gefunden wurden. Die Verhaftung an Concorde-Spionen reißt nicht ab: Im Jahr 1966 werden zwei als Priester getarnte Staatsbürger der Tschechoslowakei verhaftet und verurteilt.

Auch die sowjetische Botschaft war in die Industriespionage verwickelt. Peter Wright, Agent des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5, legt 1987 in seiner Autobiographie wichtige Information offen. Die sowjetische Botschaft habe in den 1960er-Jahrne Jahren regelmäßig britische Ingenieure eingeladen, die an der Concorde mitgebaut hatten. Bei den Treffen floss reichlich Alkohol – und Informationen über die Concorde.

Ähnliche Konstruktion – gleiches Schicksal am Ende

Die Frage, die offen bleibt: In welchem Maß konnten die Informationen über die Concorde den Bau der Tupolew vorantreiben? Denn die ähnliche Bauweise beider Überschallflugzeuge lässt sich auch technisch begründen:

Die Physik ist ja nicht veränderbar. Man kann ihre Gesetze und Phänomene nur mit technischen Lösungen nutzbar machen. Im Fall des Überschallflugs sind diese Lösungen sehr ähnlich.

Martin Schuermann, Deutsche Gesellschaft für Luft und Raumfahrt e.V.

Doch es gibt auch bauliche Unterschiede: Die Tupolew Tu-144 ist sieben Tonnen schwerer, fünf Meter länger und hat 40 Sitzplätze mehr als die Concorde. Ein großer Unterschied besteht auch bei den Triebwerken: Während die der Tupolew sich nahe dem Flugzeugrumpf befinden, liegen die Triebwerke der Concorde weiter außen, unter den Tragflächen. Die Concorde besitzt außerdem eine Heckflosse, die Tupolew Tu-144 dagegen ausfahrbare "Entenflügel".

Am Ende ereilt beide Überschallflugzeuge ein ähnliches Schicksal: Beide durchbrechen heute nicht mehr die Schallmauer. Der Lärm ist ein entscheidender Grund für das Aus. "Denn der Überschallknall ist ein Phänomen, welches nicht nur beim Überschreiten der Schallgeschwindigkeit auftritt. Während des gesamten Fluges im Überschallbereich 'knallt' es", erklärt Martin Schuermann. Daher ist das Überfliegen von Land verboten, weshalb nur noch wenige Flugrouten übrig bleiben und damit auch die Einsatzmöglichkeiten von Überschallflugzeugen gering ist.

Schuermann sieht vor allem den hohen Kraftstoffverbrauch als Problem. Der verursacht nicht nur hohe Betriebskosten, sondern schadet auch der Umwelt. Die wird zusätzlichen Belastungen ausgesetzt, denn die Überschallflugzeuge fliegen wesentlich höher als konventionelle Passagiermaschinen. Das Ende des zivilen Überschallflugverkehrs kommt für Schuermann nicht überraschend: "Fluggesellschaften sind stark kostenorientiert, durch die genannten Punkte sind die Kosten je Sitzplatzkilometer aber im Vergleich zu herkömmlichen Flugzeugen höher. Daher sind sie meist betriebswirtschaftlich unattraktiv." Alleine die Entwicklung der Concorde kostete umgerechnet knapp 15 Milliarden Euro. Die Tupolew Tu-144 verursachte etwas geringere Kosten, genaue Zahlen sind allerdings nicht bekannt.

Comeback des Überschallflugverkehrs nicht in Sicht

Letztlich beförderte die Tupolew Tu-144 nur sechs Monate lang zwischen Moskau und dem kasachischen Almaty Passagiere. In nur zwei Stunden legte sie 3.200 Kilometer zurück. Doch bei einer Flugschau in Paris im Jahr 1973 stürzte eine der Maschinen ab, im Mai 1978 musste eine weitere mit Passagieren an Bord notlanden. Zu viele technologische Probleme hätten behoben werden müssen und weitere Gelder verschlungen. Der Flugbetrieb rechnete sich nicht. So beendete der neue Parteiführer der KPdSU, Leonid Breschnew, das einstige Prestige-Projekt der Sowjetunion 1978. Der Rekord aber bleibt.  

Die Concorde war viel länger im Einsatz. Sie flog von 1976 bis 2003 regelmäßig die Strecken Paris-New York und London-New York. Doch im Sommer 2000 stürzte eine voll besetzte Concorde in der Nähe von Paris ab, nur wenige Kilometer vom Absturzort der Tupolew Tu-144 im Jahr 1973 entfernt. Zeitweise wird der Flugbetrieb eingestellt. In den folgenden drei Jahren bleiben die Passagiere aus, außerdem kommen Sicherheitsmängel hinzu. Somit findet auch die Geschichte der Concorde ihr Ende. Martin Schuermann sieht die Zukunft der Überschallflugzeuge kritisch: "Für den regulären Linienflugbetrieb mit großen Flugzeugen à la Concorde oder größer sehe ich keine Zukunft. Dazu sind die Betriebskosten zu hoch und die potentiellen Absatzzahlen zu gering." Kleinere Geschäftsflugzeuge für acht bis 14 Passagiere könnten sich indes lohnen, meint der Experte. Doch das ist noch reine Zukunftsmusik.

Fliegen mit dimensionsloser Geschwindigkeit Schneller als der Schall zu fliegen – das heißt in der Flugphysik fliegen mit Mach-Geschwindigkeit – benannt nach dem Physiker Ernst Mach. Die Schallgeschwindigkeit beträgt demnach Mach 1. Am 14. Oktober 1947 durchbrach der amerikanische Pilot Chuck Yeager mit einem Raketenflugzeug als erster Mensch die Schallmauer. Yeager startete jedoch nicht vom Boden aus. Ein Langstreckenbomber beförderte ihn in seinem Raketenflugzeug Bell X-1 in mehrere Kilometer Höhe und klinkte ihn dort aus. Ab den 1950er-Jahren werden Militärjets konstruiert, die mit Überschallgeschwindigkeit fliegen können.

Die Tu-144, das erste zivile Überschallflugzeug, hatte ihren erfolgreichen Jungfernflug bereits am 31. Dezember 1968. Schallgeschwindigkeit erreichte sie allerdings erst am 5. Juni 1969. Und als erstes ziviles Flugzeug flog sie ein knappes Jahr später, am 26. Mai 1970, mit doppelter Schallgeschwindigkeit oder mit Mach 2.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR Aktuell | 06.10.2016 | 19:30 Uhr

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