Weiter ungeklärt: der rätselhafte Tod des Judenretters Wallenberg

18. September 2017, 11:42 Uhr

Der Schwede Raoul Wallenberg rettete in Ungarn während des 2. Weltkrieges zehntausenden Juden das Leben. 1945 wurde er vom KGB verhaftet und nach Moskau gebracht. Was dann mit ihm geschah, ist bis heute unbekannt. Die Familie Wallenberg klagt nun gegen den russischen Geheimdienst und fordert Zugang zu den Dokumenten. Am 17. August 2017 sollte in Moskau die erste Anhörung stattfinden. Weil der Geheimdienstmitarbeiter schlecht vorbereitet war, wurde die Anhörung nun auf September verschoben.

"Die Lage ist aufregend und abenteuerlich. Banditen lungern in der Stadt herum, prügeln, foltern und erschießen Leute." Diese Zeilen schrieb der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg im Dezember 1944 an seine Mutter in Schweden. Und weiter: "Im großen Ganzen sind wir aber guter Laune und freuen uns des Kampfes." Nur einen Monat später verschwand er für immer.

Vielleicht war es auch die Naivität, die aus diesen Worten spricht, mit der es der 32-jährige Schwede Wallenberg schaffte, in den wenigen Monaten, während derer er in Budapest weilte, mehrere Zehntausend Juden vor Deportation und Tod zu retten. Und abenteuerlich muteten seine Methoden tatsächlich an: Er öffnete heimlich die Türen von Zügen, in denen Juden schon auf ihre Deportation warteten, begleitete im Auto die Todesmärsche mit Nahrungsmitteln und Medikamenten und erpresste selbst einen Wehrmachtsgeneral, um das Budapester Ghetto unter deutschen Schutz zu stellen. Dabei kam der junge Schwede eher zufällig nach Ungarn.

Ein Mann aus gutem Hause

Raoul Wallenberg, 1912 geboren, kam aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie von Bankiers, Diplomaten und Offizieren. Er studierte Architektur in den Vereinigten Staaten, arbeitete in Südafrika in einer schwedischen Handelsfirma, in einer Bank in Haifa und kehrte dann nach Schweden zurück. 1944 arbeitete er in Schweden in einer jüdischen Firma, die mit Delikatessen handelte.

Machtübernahme

1944 spitzte sich die Lage für die ungarischen Juden dramatisch zu – im Februar 1944 hatte Hitler die Besetzung Ungarns befohlen. Kurz darauf begann dort unter Leitung Adolf Eichmanns die "endgültige Lösung der Judenfrage" – die Deportation der ungarischen Juden in deutsche Vernichtungslager. 400.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder wurden bis zum Sommer 1944 aus Ungarn weggebracht.

Auftrag: Juden retten

Schweden und internationale Hilfsorganisationen wie das amerikanische War Refugee Board sahen mit Sorge auf die Entwicklung in Budapest und suchten jemanden, der vor Ort der jüdischen Bevölkerung helfen könnte. Der junge, enthusiastische Wallenberg war wie geschaffen für diese Aufgabe: Er hatte Verbindungen in die jüdische Geschäftswelt, war schon oft auf Geschäftsreisen in Ungarn gewesen und kam aus einer angesehenen schwedischen Familie. Im Juli 1944 reiste er als Sekretär der schwedischen Gesandtschaft in Ungarn mit dem Zug von Berlin nach Budapest - mit diplomatischer Immunität und allen Vollmachten des schwedischen Außenministeriums ausgestattet, 150.000 Dollar des amerikanischen War Refugee Board in der Tasche und mit der expliziten Aufgabe, so viele Juden wie möglich zu retten.

Schweden und andere neutrale Länder wie die Schweiz hatten mit Deutschland ausgehandelt, dass alle Budapester Juden, die Auslandskontakte nachweisen konnten, einen Schutzpass mit Aussicht auf Visum und Ausreise bekamen. Zudem mussten sie den Judenstern nicht mehr tragen. Es wurden Häuser in Budapest angemietet, die getarnt als "Schwedische Bibliothek" oder "Schwedisches Forschungsinstitut" Juden aufnehmen und verstecken konnten. Raoul Wallenberg versuchte nun, so vielen Juden wie möglich Schutzpässe auszustellen. Auch beschäftigte er möglichst viele Juden in seiner schwedischen Gesandtschaft, die als Mitarbeiter Schwedens keinen Judenstern tragen mussten.

Deportationen gestoppt

Im Juli 1944, als Wallenberg in Budapest ankam, hatte sich die Lage für die jüdische Bevölkerung etwas entspannt. Der deutsche Sieg war in weite Ferne gerückt ist. Ungarn versuchte heimlich in Verhandlungen, sich auf die Seite der westlichen Alliierten zu schlagen. Auf internationalen Druck hin stoppte das ungarische Staatsoberhaupt Miklós Horthy die Deportationen. Sogar SS-Chef Himmler stimmte dem Stopp zu. Himmler hatte den Plan gefasst, eine Million Juden gegen 10.000 LKWs zu tauschen. Er hoffte, so in Verhandlungen mit den Westalliierten zu treten, um den eigenen Untergang durch einen Separatfrieden mit dem Westen aufzuhalten. Im August reiste Eichmann aus Budapest ab. Es sah so aus, als ob die Budapester Juden gerettet wären. Raoul Wallenberg bemühte sich, ihr Leben zu erleichtern. In einem Interview mit dem "Spiegel" 2001 erinnert sich Thomas Veres, der damals als Fotograf mit Wallenberg in Budapest unterwegs war: "Er hatte immer viel Geld und Gold im Wagen. Wir waren mal in einer Schokoladenfabrik, er kaufte auf der Stelle das ganze Warenlager auf."

Ungarische Faschisten übernehmen die Macht

Doch Mitte Oktober 1944 änderte sich die Situation plötzlich dramatisch. Die Pfeilkreuzler, ungarische Faschisten, übernahmen die Macht in Budapest. Der neue Innenminister wollte die Schutzbriefe nicht mehr anerkennen. Juden wurden ans Donau-Ufer gebracht und dort erschossen, 97.000 in zwei Ghettos zusammengepfercht. Eichmann und seine Mitarbeiter kamen wieder nach Budapest, die Deportationen gingen weiter. Eichmann ließ 40.000 Juden an die österreichische Grenze bringen, um dort einen Südostwall gegen die Rote Armee zu schaufeln.

Raoul Wallenberg versuchte, gemeinsam mit seinen Mitarbeitern zu retten, wo er nur konnte. Er folgte mit dem Auto Todesmärschen, um die Menschen mit Essen und Medikamenten zu versorgen und, wenn möglich, einige zurückzubringen. Er ging zu den Güterwaggons, in denen die zu Deportierenden auf die Abfahrt warteten und las laut Namen von Juden vor, für die er schon Schutzpässe hatte, um mit ihnen wieder nach Budapest zurück zu marschieren. Er richtete 31 Häuser im Stadtteil Pest ein, die er für exterritoriale Inseln unter schwedischer Flagge erklärte und in die er so viele Juden wie möglich brachte, um sie vor der Deportation zu bewahren. Mut, Einfallsreichtung und unkonventionelle Methoden – das waren die Schlüssel für den Erfolg des "Engels von Budapest".

Pogrom verhindert

Im Januar 1945 standen die sowjetischen Truppen kurz vor der Stadt, die Einnahme von Budapest war nur noch eine Frage von Tagen. Der Mitarbeiter Wallenbergs, Thomas Veres, erinnert sich an die dramatischen Ereignisse: "Die Sowjettruppen standen vor der Stadt. Wallenberg hatte erfahren, dass SS, Pfeilkreuzler und ungarische Gendarmerie ein Pogrom vorhatten. Wallenberg ging mit mir zu General Schmidhuber und sagte ihm, er sorge dafür, dass Schmidhuber von den Alliierten persönlich zur Rechenschaft gezogen würde, wenn er das Massaker nicht verhindere." Der Oberbefehlshaber der Wehrmacht in Ungarn, Gerhard Schmidhuber, gab daraufhin eine schriftliche Garantie, dass das Ghetto verschont werden würde. Wenige Tage später erreichten die Russen die Stadt. Am 17. Januar begab sich Wallenberg in das Hauptquartier der Roten Armee in Debrecen. Von dort kehrte er nie zurück. Niemand weiß genau, was dann mit ihm geschah. Wahrscheinlich wurde er von dort nach Moskau gebracht und in der Lubjanka – der Zentrale des KGB – eingesperrt. Warum man Wallenberg damals in die Sowjetunion brachte, ist bis heute spekulativ. Wahrscheinlich hielten die Russen ihn für einen Spion der Amerikaner.

Geheimnis um sein Schicksal

Alle Anstrengungen der Familie, etwas über den Verbleib von Raoul Wallenberg zu erfahren oder ihn gar nach Schweden zu holen, verliefen im Sande. 1957 veröffentlichte die Sowjetunion ein Dokument, demzufolge der schwedische Diplomat am 17. Juli 1947 an einem Herzinfarkt in seiner Zelle verstorben sein soll. Doch immer wieder gab es in den folgenden Jahren Gerüchte, dass er in sowjetischen Gefängnissen gesehen worden sei. Erst 1989 erhielt seine Familie seinen Pass und persönliche Sachen zurück.

1991, nach Jelzins Machtantritt, befasste sich eine russisch-schwedische Untersuchungskommission mit dem Fall Wallenberg. Die russische Seite kam zu dem Schluss, dass Wallenberg am 17. Juli 1947 starb, unklar bleibt, ob durch Herzversagen oder eine Hinrichtung. Aber erst 2016 wurde er offiziell für tot erklärt. Seine Familie gibt sich jedoch nicht zufrieden. Sie haben auf Einsicht in die Akten des russischen Geheimdienstes geklagt. Vielleicht kommt so doch noch ans Licht, wie und warum der "Engel von Budapest" in der Sowjetunion sterben musste.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im Fernsehen: Brisant | 28.01.2017| 17:10 Uhr