Susanne Wein
Dr. Susanne Wein, "Antisemitismus im Reichstag – Judenfeindliche Sprache in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik" Bildrechte: Hannah Heni

24. Juni 1922 Attentat auf Rathenau Antisemitische Sprache – heute und in der Weimarer Republik

24. Juni 2022, 09:52 Uhr

Lange vor ihrer Machtergreifung nutzten die Nazis eine antisemitische Sprache. Steter Tropfen höhlt den Stein, sagt man – und so konnten sich antisemitische Begriffe verfestigen und in die Denkweisen der Deutschen "einsickern", noch während der Weimarer Republik. Dazu wurden auch sprachliche Chiffren genutzt, die wir heute nicht mehr verstehen, die damals aber klar waren. MDR GESCHICHTE sprach darüber mit der Historikerin Susanne Wein.

Frau Wein, Sie haben sich mit judenfeindlicher Sprache in den Reichstagsdebatten der Weimarer Republik beschäftigt. Wer sie dort ein?

Das war am Anfang die Deutschnationale-Volkspartei, DNVP. Da haben sich alle völkischen, republik- und judenfeindlichen Kräfte drin versammelt. Viele dieser Politiker sind später zur NSDAP gegangen. Die Reden der Rechtsextremen im Reichstag wurden von der SPD, der USPD und auch in Teilen von der KPD häufig lächerlich gemacht. Auch weil die Linken und Demokraten erkannten, dass Antisemitismus dahinter steckt, selbst wenn der nicht immer so offen daherkam.

Sie sagen "dahinter steckt". Musste man das erspüren, lag dieser Antisemitismus nicht auf der Hand?

Ich habe dafür ein Bild entwickelt, das "Laminieren". Laminieren meint, dass eben diese völkischen Rechten und Antisemiten, mitunter auch bürgerliche Antisemiten, die Sprache im Verlauf der Zwanziger Jahre so verändert haben, dass man, die Worte "Jude" oder "jüdisch" gar nicht mehr verwenden musste, um jemanden zu beschimpfen. Es genügte ab ungefähr 1928 bestimmte Schlüsselbegriffe oder Chiffren zu verwenden, also eine codierte Sprache.

Wie sah dieser verdeckte Antisemitismus konkret aus?

Ein eklatantes Beispiel für die Zwanziger Jahre sind z.B. die Worte "Hochfinanz" oder "die Goldene Internationale". Das sind, von heute aus betrachtet, wieder hoch-chiffrierte Begriffe. In den Zwanziger Jahren haben es die Völkischen und Antisemiten aber meines Erachtens erreicht, dass es genügte, solche Chiffren zu benutzen, und das gesamte Umfeld wusste, was gemeint ist – dass man damit eben Juden direkt diffamieren will und eine antisemitische Weltanschauung hat.

"Hochfinanz" etwa taucht als Begriff immer wieder im Zusammenhang mit den Reparationsdebatten auf. 1924 wurde der Dawes-Plan diskutiert. Da sprachen die Völkischen permanent vom "Weltjudentum", das die New Yorker Börse beherrschen würde und von der "jüdischen Hochfinanz", vom "jüdischen Plan" usw. Diese Begriffe wurden so miteinander verschweißt, dass beim Reparationsplan von 1928/29, dem Young-Plan, chiffrierte Begriffe genügten. Bei Leuten, die Verschwörungsmythen anhängen, ist diese Konnotation in gruseliger Weise ja bis heute da. Kratzt man an der Oberfläche, hat man ganz schnell wieder die antisemitischen Ressentiments. 

Das erinnert an das "globale Finanzkapital" bei Björn Höcke. In Ihrer Dissertation gehen Sie auch auf eine Broschüre der IG Metall ein, die antisemitische Konnotationen weckt, weil sie Hedgefonds-Manager im "Stürmer"-Stil als Insekten zeigt und als "Aussauger" tituliert. Die Suche nach einem simplen Erklärungsmuster und einer klaren Schuld verfängt heute noch, oder?

Ja, die Personifizierung des Feindbildes verfängt immer noch, und solche Einzelbeispiele aus der politischen Linken zeigen einen kulturell grundierten Antisemitismus in Deutschland auf. Gezielte Politik betreiben damit aber die Rechten, wo der Opferdiskurs, die Selbstvictimisierung so ein dominanter Topos ist. Das sehen wir bei Höcke und anderen. Ich finde es tatsächlich unglaublich und bestürzend, was er und andere für eine Sprache verwenden – heute noch, gerade hierzulande, nach dem Holocaust.

Doch das ist nicht das Einzige. Ein typisches Muster ist, dass Rechtsextreme und undemokratische Parteien versuchen, die Demokratie mit den Mitteln der Demokratie auszuhebeln. Also in den Parlamenten betreiben sie durch Zwischenrufe Obstruktion, lassen es auf Ordnungsrufe und Ausschluss ankommen, machen unglaublich viele Anfragen oder behaupten eben unaufhörlich, dass sie von politischer Willensbildung ausgeschlossen wären. Das sind alles Sachen, die in den Zwanziger Jahren bereits ziemlich ähnlich gelaufen sind.

Gibt es denn historisch auch Beispiele dafür, wie sich Demokraten dagegen erfolgreich zur Wehr gesetzt haben?

Ja, die gibt es durchaus. Julius Moses, ein jüdischer Abgeordneter, der 1942 deportiert und umgebracht wurde, hat nach dem Rathenau-Mord 1922 eine sehr interessante Rede gehalten, in der es darum geht, dass und wie die Rechten die Köpfe der Jugend vergiften. Das war wirklich eine Rede ohne Ironie. Und das ist sehr ungewöhnlich gewesen. Sonst war es eben so, wie man das auch heute in Debatten sieht und hört, dass jemand einen Redebeitrag macht und die Opposition darüber lacht oder versucht, die Redenden aus dem Konzept zu bringen. Wenn man sich innerhalb einer gefestigten Demokratie – wie der unseren heute – bewegt, kann das ein gutes Mittel sein. Aber ein Ergebnis meiner Arbeit ist eben auch: Ironie funktioniert nicht mehr bei Leuten, die wirklich das System sprengen wollen.

Das war 1922. Hat das danach noch mal sowas gegeben oder sind die Abgeordneten der demokratischen Parteien es einfach "müde" geworden?

In den Anfangsjahren gibt es diese echte Gegenrede öfter. Ohne Ironie. Aber das nimmt danach total ab. In der Tat, so ist auch mein Eindruck, die anderen haben sich ermüden lassen. Sie haben die paranoid und absurd anmutenden antisemitischen Reden der Nationalsozialisten zu wenig als ernste Gefahr wahrgenommen.

Unsere Gesprächspartnerin: Dr. Susanne Wein

Dr. Susanne Wein forscht zur Vorgeschichte und zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Weitere Schwerpunkte sind Parlaments- und Demokratieforschung sowie deutsch-jüdische Geschichte. Aktuell ist sie beim Stadtarchiv Heilbronn in Projekten zur NS-Zeit und ihren Nachwirkungen tätig. Ihre Dissertation unter dem Titel "Antisemitismus im Reichstag. Judenfeindliche Sprache in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik" ist beim Verlag Lang in Frankfurt am Main 2014 in der Reihe "Zivilisationen & Geschichte" erschienen.

Das Interview führte Nils Werner für MDR GESCHICHTE.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 20. Mai 2021 | 21:08 Uhr