Solidarität im Osten Halten die Menschen in Ostdeutschland zusammen?

07. November 2022, 05:00 Uhr

Solidarität ist das Gebot der Stunde angesichts Corona, Krieg und Krisen in der Welt. Die Politiker schwören die Menschen auf Zusammenhalt ein - es gehe auch um die Verteidigung unserer freiheitlichen Werte. Doch "mdr fragt" stellte fest: die meisten denken, dass es schlecht steht um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sind die Ostdeutschen wirklich weniger solidarisch? Ein Blick in die Geschichte und Gegenwart des Ostens zeigt: Es ist kompliziert.

"In modernen Gesellschaften bedeutet Solidarität, dass sich Menschen unterstützen und an gemeinsame Regeln halten, obwohl sie sich persönlich nicht kennen", so Silke Satjukow, Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Halle-Wittenberg. In jenen Gesellschaften organisieren staatliche Institutionen den Zusammenhalt von Menschen, zum Beispiel in Form von Steuern, Gesetzen und Solidarbeiträgen. In der ehemaligen DDR fordert die Regierung unter dem Deckmantel der "Solidarität" aber weitaus mehr von der Bevölkerung.

Verordnete Solidarität in der DDR

Prof. Dr. Silke Satjukow
Silke Satjukow ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Halle-Wittenberg. Sie sagt: In der DDR herrschte staatlich verordnete Solidarität, die politisch missbraucht wurde. Echten Zusammenhalt gab es dagegen in der Familie sowie unter Freunden und Nachbarn. Bildrechte: Silke Satjukow

"Du sollst Dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen (...) einsetzen", verlangt Walter Ulbricht 1958 auf dem fünften SED-Parteitag von der DDR-Bevölkerung. Der Regierungschef verkündet bei der Versammlung die von ihm höchstpersönlich ins Leben gerufenen "Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik" – prophetenartig wie Mose, der nach biblischer Überlieferung zehn Gebote von Gott empfing und verbreitete.

Unsere Gesprächspartnerin Silke Satjukow

Prof. Dr. Silke Satjukow, geboren 1965 in Weimar, studierte von 1991 bis 1995 Geschichte, Germanistik, Philosophie, russische Sprache und Literatur in Moskau, Berlin, Erfurt und Jena. 2011 bis 2017: Professur für Geschichte der Neuzeit an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Seit 2018 ist sie Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Silke Satjukow forscht zur Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zu Propaganda sowie zu Fremd- und Feindbildern.

Das zehnte Gebot Ulbrichts ruft dazu auf, Solidarität "mit den um nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern" zu üben. Von 1963 bis 1976 sind die sozialistischen Weisungen sogar Teil des SED-Parteiprogramms. Regelmäßig stehen staatlich verordnete Spendenaktionen und Initiativen zur Sammlung von Rohstoffen wie Altpapier und Textilien auf dem Programm. "Die Kleinen und auch die Erwachsenen werden dazu angehalten, Solidarität zu üben. Das ist ein formaler Akt, oft ein erzwungener Akt und die wenigsten stehen da mit dem Herzen dahinter", so Satjukow.

Eigennutz und Ideologie, als Solidarität verbrämt

Ab den 60er-Jahren werden Arbeitskräfte aus anderen sozialistischen Staaten wie Mosambik, Angola, Kuba und Vietnam in die DDR geholt. Offiziell sollen sie im Sinne der Brüderlichkeit und Solidarität ausgebildet werden. In Wahrheit ist die ostdeutsche Wirtschaft auf sie angewiesen, es herrscht akuter Arbeitskräftemangel. Die "Vertragsarbeiter" müssen meist unattraktive, monotone Tätigkeiten ausführen, sie werden regelrecht ausgebeutet. Strenge Regeln und Kontaktverbote schirmen sie von ihren deutschen Kollegen ab.

Das "Solidaritätskomitee der DDR" leistet Entwicklungsarbeit in sozialistischen afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Ländern. Es engagiert sich besonders im Bildungs- und Gesundheitswesen und wird aus Spenden von Gewerkschaften und der Bevölkerung finanziert. Die dem SED-Zentralkomitee unterstellte Organisation verfolgt mit der "solidarischen Unterstützung" jedoch vor allem außenpolitische Interessen, hofft auf diplomatische Anerkennung und internationale Beziehungen.

Mit dem vielfach inszenierten sozialistischen Bruderkuss demonstrieren kommunistische Staatschefs ihre vermeintlich tiefe Verbundenheit, ihre gemeinsamen Werte der Brüderlichkeit und Solidarität. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen der DDR und Sowjetunion aber von Spannungen geprägt, die DDR ist von der UdSSR abhängig – militärisch, wirtschaftlich und politisch. Auch die sozialistische Freundschaft zu Polen ist eine misstrauische.

Echter Zusammenhalt nur im Privaten

Die staatlich organisierte Solidarität wird von den meisten DDR-Bürgerinnen und Bürgern abgelehnt. "Man bleibt misstrauisch und im SED-Staat hat man ja gute Gründe, misstrauisch zu sein. So kommt es, dass ein Zusammenhalt da ist, aber nicht die Gesellschaft als Ganzes betreffend", sagt Historikerin Satjukow. Man denke nur an das Netz aus Kontrolle und Überwachung durch die Stasi. Man hält deshalb nur zusammen, solange das Vertrauen reicht – unter Nachbarn, Freunden und in der Familie. Besonders in ländlichen Gebieten habe sich dieses Verständnis von Gemeinschaft und Unterstützung bewährt und bis heute bewahrt.

Geeintes Land, geteilt in der Mentalität

Mit der Einheit und der neuen demokratischen Regierung beginnt für die Ostdeutschen eine Zeit des Umbruchs. Viele haben mit dem Verlust der Arbeitsstelle und Abstiegsängsten zu kämpfen. Als die Treuhand 1994 ihre Arbeit abschließt, sind in Ostdeutschland 2,5 Millionen Arbeitsplätze vernichtet.

Gleichzeitig kommen aus Westdeutschland unterschwellige Vorwürfe, weil es die Kosten für die Wiedervereinigung trage – dabei zahlen auch die neuen Länder den Solidaritätszuschlag. Soli, ohne Solidarität. Viele Ostdeutsche berichten von einem Gefühl der Abwertung und Benachteiligung. Bis heute sind sie seltener in Leitungspositionen und im Bundeskabinett anzutreffen. Da wundert es nicht, dass die Identifikation und Zufriedenheit mit dem wirtschaftlichen und politischen System der Bundesrepublik in Ostdeutschland geringer ist.

Wie solidarisch ist Ostdeutschland?

Eine repräsentative Studie der Bertelsmann-Stiftung über den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland (2020) zeigt: Das Vertrauen in Institutionen und das Gerechtigkeitsempfinden ist in den neuen Bundesländern geringer als in Westdeutschland, ebenso die Solidarität und Hilfsbereitschaft. Das bedeutet nicht, dass die Ostdeutschen per se unsolidarisch sind – in ihren heimischen Gemeinschaften sind sie das durchaus. Doch wer kein Vertrauen in den Staat und seine Institutionen hat, wird sich auch weniger an ihre Regeln halten und sich weniger für jene einsetzen, die sie aufstellen.

Ergebnisübersicht der ostdeutschen Bundesländer

Die Dimension "Vertrauen in Institutionen" erreicht 2020 in Gesamtdeutschland einen Wert von 51. Die ostdeutschen Bundesländer: Sachsen (47), Sachsen-Anhalt (51), Thüringen (46), Mecklenburg-Vorpommern (51), Brandenburg (44). Der bundesdeutsche Schnitt beim "Gerechtigkeitsempfinden" ist 41. Die ostdeutschen Werte: Sachsen (36), Sachsen-Anhalt (45), Thüringen (37), Mecklenburg-Vorpommern (33), Brandenburg (37). Die "Solidarität und Hilfsbereitschaft" verzeichnet im gesamtdeutschen Schnitt 48. Im Osten: Sachsen (46), Sachsen-Anhalt (42), Thüringen (43), Mecklenburg-Vorpommern (51), Brandenburg (46).

"Es braucht viele Jahre Redezeit"

Wie kann es gelingen, die betroffenen Bevölkerungsgruppen stärker einzubinden, das Vertrauen in Staat und Demokratie zu fördern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken? "Das ist eine Sache von uns allen", so Silke Satjukow, der Westdeutschen und der Ostdeutschen. Das Zauberwort laute hier: reden. "Es gibt ein paar Gruppen, die reden nicht mehr. Aber es gibt viele, die es noch tun, sie diskutieren. Und es braucht viele Jahre oder Jahrzehnte Rede- und Aushandlungszeit."

Dieser Artikel erschien erstmals im November 2021 und wurde im November 2022 aktualisiert.