Eine Packung Contergan
Contergan wird am 27. November 1961 vom Markt genommen. Bildrechte: picture-alliance/ dpa | Stefan Puchner

Für die Opfer ist es nicht vorbei Das Skandal-Schlafmittel Contergan

26. November 2024, 16:25 Uhr

Mit dem Namen Contergan ist einer der größten Arzneimittel-Skandale verbunden. Das Schlafmittel, das auch bei Schwangerschaftsübelkeit eingenommen wurde, verursacht Missbildungen bei Neugeborenen. Nach Bekanntwerden des Zusammenhangs müssen sich die Manager des Herstellers Grünenthal wegen vorsätzlicher Körperverletzung und fahrlässiger Tötung vor Gericht in einem der aufwendigsten Strafprozesse in der Bundesrepublik verantworten. Am 27. November 1961 wird Contergan vom Markt genommen.

Am 1. Oktober 1957 bringt die Firma Grünenthal mit Sitz in Rheinland-Pfalz das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan in der Bundesrepublik auf den Markt. Es ist zunächst frei verkäuflich und gilt als gut verträglich. Doch wie sich später herausstellt, schädigt das Mittel den Embryo in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft schwer. Die Folgen sind fatal und werden nicht sofort mit der Einnahme des Medikaments und dessen Wirkstoff Thalidomid in Verbindung gebracht.

Tausende Kinder mit schweren Missbildungen geboren

Gegen Ende des Jahres 1960 wird in der Bundesrepublik festgestellt, dass die Zahl von Neugeborenen mit Missbildungen extrem angestiegen ist. Zwischenzeitlich werden dafür sogar Atomtests, ein ungesunder Lebensstil der Mütter und genetische Faktoren verantwortlich gemacht. Die nach den Erfahrungen im Dritten Reich abgeschaffte Meldepflicht für Missbildungen verzögert weiter, dass der Anstieg sofort statistisch erkannt und belegt werden kann. Mitte 1961 wird Contergan rezeptpflichtig und Ende November des Jahres vom Markt genommen.

Zu spät für Tausende Familien und ihre Babies mit verkümmerten Gliedmaßen. Weltweit wird die Zahl der durch Contergan geschädigten Menschen auf 10.000 geschätzt. Nach Angaben des Bundesverbandes Contergangeschädigter kamen in Westdeutschland ungefähr 5.000 Kinder mit schweren Missbildungen vor allem an Armen und Beinen zur Welt. Von ihnen leben heute noch etwa 2.400. Wie viele Totgeburten auf die Einnahme von Contergan zurückgehen, ist nicht bekannt.

Contergan Tabletten
Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan war in der DDR nicht erhältlich. Trotzdem wurden im Osten Deutschlands mindestens zehn Fälle bekannt. Bildrechte: imago images/JOKER

Contergangeschädigte Kinder in der DDR

Selbst in der DDR werden in diesen Jahren zehn Babies mit den typischen Missbildungen geboren. Ihre Mütter hatten sich das Medikament aus dem Westen mitbringen lassen. In der DDR wird kein Medikament mit diesem Wirkstoff hergestellt oder vertrieben. Einem Bericht des "Neuen Deutschlands" aus dem Jahre 2007 zufolge, gibt es anfangs durchaus Interesse. Der zuständige Ausschuss habe aber eine Herstellung abgelehnt, weil Contergan ein Gegenspieler von Vitaminwirkungen und damit zu riskant für Embryonen und Föten sei.

Einer der größten Strafprozesse der Bundesrepublik

In der Bundesrepublik wird jahrelang gegen den damaligen Eigentümer der Herstellerfirma Grünenthal, Hermann Wirtz, und zahlreiche leitende Angestellte ermittelt. Am 18. Januar 1968 lässt die erste Große Strafkammer des Landgerichts Aachen die Anklage gegen neun führende Manager von Grünenthal zu und eröffnet das Hauptverfahren. Am 27. Mai 1968 findet dann der erste Verhandlungstag statt. Zahlreiche Eltern betroffener Kinder treten als Nebenkläger auf. Nach 283 Verhandlungstagen wird der Prozess am 18. Dezember 1970 eingestellt - wegen geringer Schuld der Angeklagten. Das Landgericht Aachen kann das persönliche Verschulden der angeklagten Pharmamanager nicht beweisen. Noch vor Abschluss des Strafprozesses wird im April 1970 ein Vergleich geschlossen.

Stiftung nach langem Tauziehen

Die Firma Grünenthal zahlt im Zuge dessen 100 Millionen D-Mark in die 1972 gegründete Stiftung "Hilfswerk für behinderte Kinder". Rechtlich wird damit jeder weitere Anspruch gegen die Firma ausgeschlossen. Der größte Medizinskandal der Bundesrepublik ist durch den Vergleich für die Firma erledigt. Das 2005 in "Conterganstiftung für behinderte Menschen" umbenannte Hilfswerk ist bis heute für sämtliche Ansprüche der Betroffenen zuständig. Aus Bundesmitteln fließen bis 2016 mehr als eine Milliarde Euro. Die Contergangeschädigten erhalten seit 2017 je nach Grad ihrer Schädigung eine monatliche Rente und eine jährliche Einmalzahlung.

Im Zuge des Contergan-Skandals wird das Arzneimittelrecht in der Bundesrepublik drastisch verschärft. Die therapeutische Wirksamkeit muss seitdem in geeigneten Studien nachgewiesen werden.

Christoph Friedrich in seinem Büro 3 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Betroffene kämpfen mit Folgeschäden

Für die Opfer ist der Contergan-Skandal aber auch mehr als 60 Jahren nach der Markteinführung nicht vorbei. Wie Georg Löwenhauser, der Vorsitzende des Bundesverbandes Contergangeschädigte, sagt, warten viele Betroffene noch immer auf eine Entschuldigung des Herstellers Grünenthal. Der Konzern hatte sich bisher nur dafür entschuldigt, nicht früher auf die Opfer zugegangen zu sein.

Die Betroffenen im fortgeschrittenen Alter kämpfen inzwischen nicht nur mit den angeborenen körperlichen Beeinträchtigungen, sondern auch mit Folgeschäden. Ihr Leben und Alltag wird durch den erhöhten Verschleiß, zum Beispiel von Gelenken, zusätzlich erschwert. Und offenbar hat die Einnahme von Contergan vor der Geburt auch die Gefäßbildung beeinflusst, wie einige Fälle bereits zeigen.

Über dieses Thema berichtete MDR Fernsehen auch in: Brisant | 18.01.2018 | 18:11 Uhr

Der Artikel war erstmals 2020 online und wurde 2024 überarbeitet und ergänzt.