Erfolgreich, nüchtern und enttäuscht:Die Wendekinder
"Wendekinder", "Generation der Unberatenen", "Eisenkinder" – für die zwischen 1973 und 1984 in der DDR Geborenen kursieren verschiedene Bezeichnungen. Was ist das Besondere an dieser Generation?
"Ich fühlte mich unendlich verloren und allein gelassen. Meine Eltern waren mit der neuen Situation überfordert. Wie versteinert nahmen sie die Wende hin, als handele es sich um eine Naturkatastrophe." 1989 war Sabine Rennefanz 15 Jahre alt und ging in Eisenhüttenstadt zur Schule. Ein Jahr zuvor hatte sie der DDR bei der Jugendweihe noch Treue geschworen, jetzt war die sozialistische Republik in Auflösung begriffen. "Es war kein perfektes Land, aber es war das einzige, das ich kannte", sagt Rennefanz. "Wir hatten nun alle Freiheiten. Aber was war das – Freiheit?" Die sogenannte "Freiheit" zeigte zunächst einmal ihre eiserne Fratze – Sabine Rennefanz' Eltern verloren wie Millionen andere Ostdeutsche nach dem Ende der DDR Arbeit und Identität.
Sie selbst, mitten in der schwierigen Zeit der Pubertät, war auf sich allein gestellt: "Als ich dringend Orientierungshilfen gebraucht hätte, waren die Eltern mit sich selbst beschäftigt. Sie wussten auch nicht, wie es weitergeht." Erst viele Jahre später, Sabine Rennefanz ist mittlerweile eine erfolgreiche Journalistin, wird ihr klar, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht alleine ist, ganz im Gegenteil: Es sind gewissermaßen die prägenden Erfahrungen der sogenannten "Wendekinder". Die Historikerin Tanja Bürgel attestiert ihnen eine "metaphysische Obdachlosigkeit":
Sie waren in eine Welt geworfen, ohne eine Instanz zu haben, an der sie sich festhalten konnten.
Historikerin Tanja Bürgel
Orientierungslose "Dritte Generation der DDR"
Sabine Rennefanz' Generation, der sie den Namen "Eisenkinder" gegeben hat, umfasst etwa 2,4 Millionen Menschen, die zwischen 1973 und 1984 in der DDR geboren wurden. Soziologen sprechen von der "Dritten Generation der DDR" oder der "Generation Wende". Eigen ist den Mitgliedern dieser Generation, dass sie ihre Kindheit in der DDR verbrachten, in der Bundesrepublik aber erwachsen wurden. Eine Generation, so Sabine Rennefanz, "die mitten in der Pubertät zwischen zwei Staaten hing". Dieser Spagat verlangte den "Wendekindern" Einiges ab: Sie sahen sich in ein System mit gänzlich anderen Spielregeln verschlagen, in dem sie sich nun neu bestimmen mussten, denn vieles von dem, was bisher gegolten hatte, war quasi über Nacht obsolet geworden. Auf die Hilfe von Lehrern oder Erziehern konnten sie allerdings nicht bauen, denn bei ihnen herrschten ebenfalls Orientierungslosigkeit und Ratlosigkeit.
Halbwüchsige erklärten ihren Eltern die neue Welt
Von einer "Generation der Unberatenen" spricht daher auch der Leipziger Soziologe und Jugendforscher Bernd Lindner, da sich in der Wendezeit die gesamte DDR im Umbruch befand und weder das Bildungssystem noch die Eltern den jungen Leuten Orientierung bieten konnten. Sie waren auf sich allein gestellt. Keiner konnte ihnen sagen, welche Studiengänge Bestand haben würden oder welche Berufe künftig gefragt seien. Wie man beispielsweise BAföG beantragen musste, wusste ebenfalls kaum einer zu sagen. Nicht selten waren es die jungen Leute selbst, die ihren arbeitslos gewordenen und deprimierten Eltern die neue Welt erklärten. Zuversichtlich waren in jener Zeit die wenigsten der "Wendekinder", ganz überwiegend sahen sie schwarz in die Zukunft. Den raschen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik lehnten sie laut der Sächsischen Längsschnittstudie mehrheitlich ab.
Unterschiedliche Lebenswege
Freilich gab es auch innerhalb der "Generation Wende" unterschiedliche Verhaltensmuster und Lebenswege nach dem Ende der DDR - je nachdem, in welchem Alter der Einzelne von der Wucht der Umbrüche getroffen worden war. Die bereits Anfang der 1970er-Jahre geborenen Ostdeutschen entfernten sich nach 1990 relativ schnell von ihren Eltern, deren Erfahrungen und Ansichten ihnen fremd geworden waren und eigneten sich stattdessen rasch die westlichen Lebensformen an. Mit dem relativen wirtschaftlichen Aufschwung Mitte der 1990er-Jahre schienen ihnen nun auch ungeahnte berufliche Aufstiegswege offen zu stehen.
Die jüngeren Ostdeutschen, die um 1980 geborenen, hatten es freilich ungleich schwerer. Sie beobachteten als Pubertierende "die Traumata einer überstürzten gesellschaftlichen Transformation, erlebten die Orientierungskrisen ihrer Eltern und Lehrer, das strukturelle Umbau-Chaos in den Schulen" (Tanja Bürgel) und sahen sich als junge Erwachsene dann mit einer Welt konfrontiert, in der sowohl politische als vor allem wirtschaftliche Krisen die Tagesordnung bestimmten. Gewissheiten und frohe Zukunftserwartungen jedenfalls gab es keine mehr. "Ich sehe weder unser politisches System noch meinen aktuellen Job als manifest an, alles kann sich von einem Tag auf den andern ändern" sagt etwa der 1979 in Leipzig geborene Journalist Christian Fuchs.
Dieses Bewusstsein, den Augenblick zu lieben und seine Möglichkeiten auszureizen, macht mich allerdings auch freier und weniger ängstlich, als Menschen in meinem Alter im Westen.
Christian Fuchs
"Wendekinder" könnten neue politische Kultur etablieren
Bereits 1995 hatte der Politikwissenschaftler Claus Leggewie die Hoffnung geäußert, dass den "Wendekindern" aufgrund ihrer spezifischen Erfahrungen in zwei Systemen eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung einer neuen politischen Kultur zu Anbeginn des 21. Jahrtausends zufallen würde. Sie seien durch die gewaltigen Umbrüche und dem Ende ihres Geburtslandes, durch die Schicksale ihrer Eltern, die häufig mit Arbeitslosigkeit und der Entwertung ihres gesamten Lebens zu kämpfen hatten, besonders sensibilisiert. Und so schien es sich in der Tat auch zu verhalten: "Ich erlebte die westdeutschen Jugendlichen bestimmter in einer Welt, die mir noch fremd war, und stellte fest, dass mir Werte wie Emanzipation, Gerechtigkeit, Gemeinsinn wichtiger waren", erinnert sich die 1984 in Erfurt geborene Theaterregisseurin Romy Weyrauch. "Ob das mit meiner Sozialisation zu tun hat…?"
Soziologische Untersuchungen zeigten freilich, dass die "Generation Wende" der "Politik" generell kritisch gegenübersteht. Genährt würde die "Politikverdrossenheit" auch von der Enttäuschung darüber, dass sich viele Hoffnungen und Träume, die in die neue Staatsform gesetzt und die von westdeutschen Politikern auch noch kräftig angefacht worden waren, nicht erfüllen ließen.
Die "Generation Wende" als neue 68er?
Dabei wäre die "Generation Wende", so meinte der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz, die Äußerung Leggewies aufnehmend, gut 15 Jahre später, unter dem Druck der fulminanten Krise des Kapitalismus wie kaum eine andere dazu prädestiniert, zu vereinen und zu fragen, wie es gemeinsam weitergehen könnte. Die "Dritte Generation der DDR" könnte, so Maaz, eine Generation wie die 68er damals im Westen werden, die der Gesellschaft nämlich die Frage aufzwingt: "Wie wollen wir gemeinsam unsere Zukunft gestalten?"
Die hoffnungsvollen Aussichten des Hallenser Psychotherapeuten auf eine engagierte Generation werden von den meisten Fachleuten freilich keineswegs geteilt. Distanz und Hoffnungslosigkeit gegenüber der "Politik" bestimmen nach wie vor das Lebensgefühl der "Wendekinder", konstatiert etwa der Historiker und Publizist Hagen Findeis. Und Tanja Bürgel meint aus ihren Studien erkennen zu können, dass die um 1980 geborenen Ostdeutschen "insgesamt eher an Helmut Schelskys 'skeptische Generation' in der bundesdeutschen Nachkriegszeit als an die rebellierenden 68er" erinnern. Die Krise des Kapitalismus, so Tanja Bürgel, würde nicht als eine gewissermaßen momentane verstanden, sondern gewissermaßen schon als ein Anfang vom Ende. Generell zweifelten die Vertreter jener Generation an der "Veränderbarkeit" der Welt und am sogenannten "Fortschritt". Suspekt seien ihnen Weltbeglückungsutopien, wie sie sie etwa in ihrer Schulzeit in der DDR und wenig später im gerade vereinten Deutschland vorgesetzt bekommen hatten.
"Generation Wende" und die "innere Einheit Deutschlands"
Doch auch was die Vollendung der "deutschen Einheit" angeht, zeigte sich Tanja Bürgel skeptisch. Bereits 2002 widersprach sie der damals noch durchaus gängigen Auffassung, wonach die letzte Generation der DDR die "innere Einheit Deutschlands" vollziehen würde. Im Frühjahr 2013 schrieb Sabine Rennefanz - und zwar stellvertretend für ihre Generation - jedenfalls: "Man dachte ja, die Frage Ost oder West würde bei meiner Generation keine Rolle mehr spielen und wir würden die Einigung gewissermaßen vollenden. Leider ist das nicht so, im Gegenteil."
Zitate:
Die Generation der tickenden Zeitbomben, FAZ, 12. 3. 2013; Die Krise könnte auch eine neue Identität stiften, Der Tagesspiegel, 2. 2. 2013; Tanja Bürgel, Mauerfall-Kinder, Berliner Debatte INITIAL 15 (2004); Sabine Rennefanz, Uwe Mundlos und ich, Berliner Zeitung, 31. 12. 2011; Die 3. Generation, Das Magazin, 4/2013.
(Erstveröffentlichung am 03.04.2013)
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Generation Wende | 22. Oktober 2019 | 22:05 Uhr