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Ein Klassenzimmer im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt nach dem Amoklauf am 26.04.2002. Bildrechte: Sascha Fromm/Thüringer Allgemeine

Gewalt in unserer Gesellschaft: Wir brauchen mehr ZivilcourageSchützt uns Demokratie vor Gewalt?

11. Mai 2022, 11:06 Uhr

Vom Totschlag Ötzis vor 5.000 Jahren über die Hexenverbrennung im Mittelalter bis hin zu terroristischen Anschlägen im 21. Jahrhundert – Gewalt ist eine Konstante in der menschlichen Geschichte. Auch heute noch schockieren Tragödien wie der Erfurter Amoklauf von 2002 die Bevölkerung. Wie viel Gewaltbereitschaft steckt heute in unserer Gesellschaft? Wir haben dazu mit dem Gewaltforscher Prof. Dr. Andreas Zick gesprochen. An der Universität Bielefeld untersucht er, wie sich unsere Gewaltbereitschaft verändert. Und ob wir unseren Vorfahren vielleicht sehr viel näher sind, als uns lieb ist.

von Kevin Rudolph

Herr Professor Zick, vergleicht man die gegenwärtige Situation mit der von vor 100 oder 1.000 Jahren, wie gewaltfrei leben wir dann heute hier in Mitteleuropa?

Wir lernen immer mehr als Menschen, Gewalt im Zaum zu halten. Die eine These sagt, Zivilisation ist letztendlich Kontrolle von Gewalt. Im Mittelalter wurden bestimmte Konflikte, auch in den gehobenen Schichten, noch mit Gewalt gelöst. Heute lösen wir Konflikte anders und das ist ein evolutionärer Prozess, das heißt, das Überleben der Menschheit ist davon abhängig, dass Gewaltkontrolle herrscht.

Prof. Dr. Andreas Zick im Gespräch mit der Redaktion von MDR Zeitreise. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Laut der Kriminalstatistik von 2022 leben wir in Deutschland so sicher wie nie zuvor. Doch trifft das auch auf die Gewaltbereitschaft zu? Ist das Gewaltpotenzial vielleicht trotz der sinkenden Kriminalitätsrate gestiegen?

Eine große Herausforderung ist, dass auch die heutige Demokratie als solche Infrage gestellt wird. Das bedeutet, dass bestimmte Institutionen wie eben Medien, Gewaltenteilung oder bestimmte Parlamente und ihre Entscheidungen angezweifelt werden. Und es entsteht im Populismus die Idee: jetzt nehmen wir die Kontrolle selbst in die Hand. Und diese Kontrolle - sie wird mit Gewalt durchgesetzt.

Wie stark ist der Einfluss von aktuellen Ereignissen auf die Gewaltbereitschaft?

Pandemien sind Zeiten, in denen Hassbilder eine große Gelegenheit haben. Und jetzt haben wir eine Kriegssituation. Und das sind immer Zeiten, in denen Gewalt dann zunimmt. Wir müssen uns große Sorgen machen. Wir können ja nicht darauf hoffen, nicht selbst Gewaltopfer zu werden, wir können nicht darauf hoffen, dass nicht bestimmte Gruppen immer wieder zu Gewaltopfern werden. Denn über die letzten Jahre hat es immer wieder ähnliche Opfergruppen gegeben. Frauen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, Opfer von Gewalt zu werden. Kinder haben eine höhere Wahrscheinlichkeit. Menschen mit einer anderen Herkunft haben eine höhere Wahrscheinlichkeit.

Der Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium

Am 26. April 2002 erschießt ein ehemaliger Schüler des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt bei einem Amoklauf 16 Menschen, darunter zwölf Lehrkräfte und zwei Schüler. Anschließend tötet er sich selbst. Die Tat in Erfurt ist einer der ersten Amokläufe an einer Schule in Deutschland. In der Folge erarbeiten Schulen bundesweit Notfallpläne, das deutsche Waffen- und Jugendschutzgesetz werden verschärft.

Sind wir machtlos gegenüber der Gewalt? Was kann der Einzelne tun?

Also Erfurt ist ein gutes Beispiel, weil da die Gesellschaft insgesamt verstanden hat, dass wir eine Form von Gewalt haben die, wenn wir nicht hinreichend jetzt alles tun, um das frühzeitig zu entdecken, wir noch mehr Gewalt sehen. Es gibt kaum eine Schule, die nicht jetzt ein Regelsystem hat, was einsetzt; die sensibel ist dafür, dass vielleicht irgendwo Personen sind, die anfällig sind. Da haben wir enorm viel dazu gelernt. In anderen Bereichen haben wir das noch nicht. Und eigentlich gehört zur Zivilcourage, dass wir aufmerksam werden auf die Gewalt und das nicht nur an Jahrestagen, sondern tatsächlich jeden Tag.

Das Gutenberg-Gymnasium in Erfurt wird am 26.04.2002 zum Tatort von Gewalt. Bildrechte: imago/Eckehard Schulz
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Über die PersonProf. Dr. Andreas Zick ist Konfliktforscher in Bielefeld. Er ist dort an der Universität seit 2008 Professor für Sozialisations- und Konfliktforschung. Außerdem leitet er seit 2014 das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG). Der Sozialpsychologe forscht aktuell unter anderem zu den Themen Radikalisierung, Rassismus, Migration, Konflikt und Gewalt.

Das Interview führte die Autorin Annett Meltschack für die MDR Zeitreise.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | AMOK - Erfurt und die Folgen | 24. April 2022 | 22:50 Uhr