Margot und Erich Honecker und Juan Carlos (li.), einer der engsten Freunde der Honeckers und Leiter des Honecker Solidaritätskomitees, Los Andes,  1993, September in den Anden
Margot und Erich Honecker 1993 in Chile. Links der Leiter des chilenischen Honecker-Solidaritätskomitees, Los Andes. Bildrechte: MDR/Zeitzeugen TV

Honeckers Flucht: Tauziehen oder ein Kunststück der Diplomatie?

22. März 2022, 16:35 Uhr

Um den Namen Erich Honecker kam niemand in der DDR herum. Doch im Oktober 1989 änderte sich alles für den Staatsmann: Er wurde von seinen eigenen Genossen abgesetzt. Nach dem Mauerfall bekam er den Hass und die Ablehnung der Bevölkerung zu spüren. Unter dem Schutz der Roten Armee flohen Honecker und seine Frau am 13. März 1991 nach Moskau. Doch ihre Reise endete nicht dort ...

Es ist die Nacht zum 13. März 1991. Auf dem Gelände des sowjetischen Militärhospitals bei Beelitz wird eine geheime Operation durchgeführt. Ein Hubschrauber bringt Erich Honecker und seine Frau Margot zum sowjetischen Militärflughafen Sperenberg im Fläming. Die beiden sind in Beelitz nicht mehr sicher, sie sollen nach Moskau ausgeflogen werden.

"Die fliegen heute den Honecker aus"

Kurz nach der Ankunft des Paares in Sperenberg erhält Bundeskanzler Helmut Kohl einen Anruf vom sowjetischen Botschafter, der ihn informiert, dass Honecker noch am gleichen Tag mit einer Militärmaschine nach Moskau ausgeflogen wird. Lothar de Maizière, damals für die CDU in Bonn, erinnert sich an den Tag:

Und da setze ich mich in meine Reihe im Bundestag, ziemlich hinten. Und da wälzte Kohl in den Bundestag rein. Und setzte sich neben mich, was mich sehr verwunderte. Und sagte: 'Ich muss dir was sagen, mich hat eben der Botschafter angerufen. Die fliegen heute den Honecker aus.'

Lothar de Maizière

Lothar die Maiziere
Lothar de Maizière Bildrechte: imago/United Archives

Honecker unter dem Schutz von Gorbatschow

Währenddessen knallen auf dem Flughafen die Sektkorken. Die Honeckers sind erleichtert. Sie haben das Gefühl, nun bald in Sicherheit zu sein. Doch die Flucht stellt die deutsch-sowjetischen Beziehungen auf eine harte Probe. Mitten in der Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Vertrages werden Erich Honecker und seine Frau aus Deutschland "entführt". Die Bundesregierung wird darüber lediglich informiert. In Moskau wird das Politikerpaar in einer komfortablen Regierungs-Datscha untergebracht. Die Honeckers stehen unter dem Schutz Gorbatschows. Noch. Dann verändert ein Ereignis die Situation der Honeckers dramatisch.

Jelzin ordnet Auslieferung an die BRD an

Am 19. August 1991 putschen reaktionäre Kreise in der sowjetischen Regierung gegen den Reformer Gorbatschow. Der August-Putsch scheitert zwar, doch Gorbatschow verliert seine Macht, die Sowjetunion zerfällt. Boris Jelzin ist der neue starke Mann im Kreml.

Und Jelzin ist das Schicksal der Honeckers egal. Nach Gesprächen mit Deutschland erkennt er "eine grobe Völkerrechtsverletzung" an: Man habe den deutschen Staatsangehörigen praktisch entführt, um ihn der strafrechtlichen Verfolgung zu entziehen. Jelzin ordnet die Auslieferung Honeckers an die Bundesrepublik an.

Die Honeckers flüchten in die chilenische Botschaft

Am 10. Dezember 1991 erhält das Ehepaar ein Ultimatum der Sowjetregierung: Binnen dreier Tage müssen sie das Land verlassen. Doch nach Deutschland wollen sie auf keinen Fall. Erich und Margot packen ihre Koffer und fliehen in die chilenische Botschaft in Moskau. Der Botschafter Clodomiro Almeyda ist ein Freund der Honeckers, er hatte im Exil in der DDR gelebt.

Eine aus Sicht der Honeckers schlaue Entscheidung, erinnert sich der damalige deutsche Justizminister Klaus Kinkel: "Die Chilenen fühlten den Honeckers gegenüber eine massive Verpflichtung, weil er sich in schwierigen Zeiten um die Chilenen gekümmert hat, auch um Führungspersonen." Nach dem Putsch Pinochets gegen Salvador Allende im Jahr 1973 waren viele Politiker, vor allem Sozialisten und Sozialdemokraten, in die DDR geflüchtet. Honeckers Tochter Sonja ist mit einem Exil-Chilenen verheiratet, die beiden sind mit ihren Kindern schon 1990 aus der DDR nach Chile ausgereist.

Erich Honcker mit seinem Enkel Roberto.
Erich Honecker gemeinsam mit seinem Enkel Roberto Yáñez. Bildrechte: MDR/Zeitzeugen TV

Diplomatisches Tauziehen

Die Situation wird immer komplizierter. Die Deutschen wollen Erich Honecker vor Gericht stellen, die Russen wollen ihn loswerden und die Chilenen wollen ihn in Chile mit dem Rest der Familie vereinen. Alle Seiten haben einleuchtende Beweggründe. Eine Einigung scheint fast unmöglich. Und so schmiedet man in Moskau einen ausgefuchsten Plan ...

Ein wichtiges Argument bei der Debatte ist der schlechte Gesundheitszustand des Ex-Staatschefs. Die Chilenen argumentieren, ihm aus humanitären Gründen Asyl gewähren zu wollen. Eine Ärztin, die die Honeckers in der Botschaft regelmäßig untersucht, hatte mit einem tragbaren Ultraschallgerät ein Geschwulst in Honeckers Leber festgestellt. Ein bösartiger Tumor, wie sie meint.

Ist Honecker schwer krank?

Honecker wird für eine gründliche Untersuchung ins Moskauer Botkin-Krankenhaus gebracht. Die Ärzte dort kommen jedoch zu einem überraschenden Ergebnis: Es sei kein Leberkrebs bei Honecker feststellbar! Der damalige deutsche Botschafter in Chile, Wiegand Pabsch, beschreibt, wie sich diese Nachricht auswirkte:

Daraufhin fühlte sich die chilenische Öffentlichkeit an der Nase herumgeführt.

Wiegand Pabsch, damalige deutsche Botschafter in Chile

Honecker verliert den Rückhalt der Chilenen. Einer Auslieferung steht nun nichts mehr im Wege. Wie sich später herausstellt, ist das Ergebnis der Untersuchung gefälscht. Gregor Gysi vermutet, dass die Mediziner auf Wunsch von Jelzin mit Absicht falsche Ergebnisse veröffentlicht haben: "Ich halte es für ausgeschlossen, dass die Ärzte den Leberkrebs nicht mitbekommen haben." Der Plan geht auf.

Der todkranke Honecker vor Gericht

Am 29. Juli 1992 wird der Ex-Staatsratsvorsitzende von Moskau nach Berlin-Tegel geflogen und noch auf dem Flughafen verhaftet. Margot Honecker darf zu ihrer Familie nach Chile ausreisen. Es folgt eine Gerichtsverhandlung in Berlin, die schnell zur Farce wird. Erich Honecker ist schwer krank, der Tumor in seiner Leber wächst rasant. Es steht zu befürchten, dass er das Ende der Verhandlung nicht mehr erleben wird. Daraufhin wird das Verfahren eingestellt.

Am 13. Januar 1993 darf Erich Honecker nach Chile ausreisen. Etwas über ein Jahr später, am 29. Mai 1994, stirbt er. Über 3.000 Personen sind bei den Trauerfeierlichkeiten anwesend. Es sind Exil-Chilenen, die Erich Honecker ein letztes Mal ihre Dankbarkeit erweisen.

Dieser Artikel wurde 2019 erstmals veröffentlicht.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise: Erich Honecker | 03. Mai 2021 | 22:00 Uhr

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