Interview: "Dahinter steckt mehr als nur eine Skepsis gegenüber dem Impfen."

09. Dezember 2021, 05:00 Uhr

Eberhard Wolff ist Kulturwissenschaftler und Medizinhistoriker an der Universität Basel. Impfgegner, so sagt er, gab es schon seit dem 19. Jahrhundert, als das Thema Pockenschutz-Impfung aufkam. Besonders in einer Region sei es zu Widerstand und Protest gekommen: Sachsen. Warum das so ist, erklärt er im Interview mit Nils Werner.

Herr Wolff, beim Blick zurück auf die impfkritischen Bewegungen der Vergangenheit sind Sie u.a. auf den Arzt und Impfgegner Carl Georg Nittinger gestoßen, der mit Erfolg gegen die seit einem halben Jahrhundert praktizierte Pockenschutzimpfung polemisierte.

EW: Ja, das ist natürlich so die übliche, auch heute immer wieder herangezogene Interpretation, dass es da einzelne böse Buben gibt, die als Agitatoren durchs Land ziehen und das unschuldige Volk verführen bzw. in den Irrglauben führen. Da bin ich ein bisschen skeptisch. Jede Bewegung ist natürlich abhängig vom Auftreten einzelner Personen. Aber diese  Entwicklung hätte definitiv nicht so begonnen, wenn da nicht bereits der Boden dafür bereitet gewesen wäre. Da ist eben die große und bis heute schwierige Frage: Was hat dazu geführt? Dahinter steckt mehr als nur eine Skepsis gegenüber dem Impfen. Da steckt etwas drin, was mir vor allem in den letzten Wochen auch immer wieder durch den Kopf ging. Der Begriff: Systemvertrauen!

Das Vertrauen in welches System ist oder war da angeknackst?

Ich glaube, dass die politischen Hintergründe von Impfgegnerschaft und Impfskepsis nicht statisch sind, sondern im Gegenteil sehr schnell wechseln können. Die tauchen mal im politisch linken Lager auf, bei den Liberalen ebenso wie bei der politischen "Rechten". Aber was – bei aller Vielfalt – immer wieder als Gemeinsamkeit auffällt ist, dass da plötzlich so etwas wie ein Grundvertrauen fehlt in ein staatliches Medizinsystem. Gelichzeitig wankt auch das Vertrauen ins politische System.

In Sachsen gehen die Impfquoten Anfang der 1870er Jahre dramatisch runter, obwohl man vorher – trotz Freiwilligkeit – bis zu 98 prozent der Kleinkinder hat impfen können. In Bayern hat man sich für den komplett anderen Weg schon 1807 entschieden und die Impfpflicht eingeführt.

Bayern hat im frühen 19. Jahrhundert im Grunde den autoritären, effizienten Verwaltungsstaat eingeführt, inklusive Impfungen, also Impfzwang. Die haben das damals auch im besetzten Tirol durchgesetzt. Und dann wurden sie plötzlich mit massiven Akzeptanzproblemen konfrontiert. Letzten Endes ist der Aufstand der Tiroler gegen die Bayern, Stichwort Andreas Hofer, natürlich kein Impfaufstand gewesen. Aber ein Stück weit hat dieser staatliche Eingriff, die Überformung mit autoritären Staatsstrukturen auch im Bereich der Medizin es begünstigt, dass es diesen Aufstand gab. Umgedreht ist spannend, dass Sachsen es zur gleichen Zeit geschafft hat, relativ hohe Impfquoten zu bekommen. Ganz ohne Impfflicht. Doch auf die Frage: Wie hat das wirklich alles funktioniert, gibt’s bis heute noch keine zufriedenstellende Antwort.

*Anmerkung der Redaktion: Andreas Hofer war Freiheitskämpfer und Anführer der Tiroler Aufständigen von 1809, als es gegen die französische und bayrische Besetzung seiner Heimat ging.

Aber was – bei aller Vielfalt – immer wieder als Gemeinsamkeit auffällt ist, dass da plötzlich so etwas wie ein Grundvertrauen fehlt in ein staatliches Medizinsystem 

Eberhard Wolff

Bei der Suche nach den Orten, wo sich damals die Impfskepsis in Sachsen zuerst durchgesetzt hat, sind Sie auf Gebiete gestoßen, die aus heutiger Sicht eher für Fortschritt und Aufklärung stehen.

Ja, damals sind es zuerst die Industriezentren, also die Modernitätsmotoren, wo das offenkundig ist. Da wo die moderne Gesellschaft ausprobiert wird. Und ich glaube, dass es auch damals schon um Bevölkerungsmitsprache ging. Es fällt auf, dass diese Impfgegnerbewegung sich aus bestimmten Milieus stärkte. Das war viel Kleinbürgertum mit einzelnen Repräsentanten aus den gesellschaftlichen Eliten, Ärzte, auch Professoren. Und dass sich die neue organisierte Kritik in Vereinen geäußert hat. Das ist ja ein typisches Phänomen dieser Zeit, dass sich bestimmte Interessengruppen in Vereinen organisiert haben. Und sich dann gleichzeitig aber auch "das Volk" mehr und mehr in diesen Vereinen trifft und sich artikuliert.

Kürzlich tauchte sogar die These auf, das sei typisch für deutschsprachige Bergregionen. Von der Schweiz bis in die ostdeutschen Mittelgebirgslagen sei eben die Distanz und Skepsis gegenüber zentralstaatlichen Maßnahmen und Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte besonders hoch. 

Ich halte von dieser "Bergregionen-These" nichts. Wo hingen denn jetzt in der Schweiz, als es um die "Covid-Gesetz-Abstimmung" ging, besonders viele Plakate? Sicher, das waren nicht die städtischen Zentren, aber es waren auch nicht die Berg-Kantone. Sondern man hat sie am häufigsten im sogenannten "Hinterland" angetroffen.

Das ist ja nicht so fern von dem Eindruck, den man aktuell auch in Sachsen gewinnt. Die großen städtischen Ballungsräume (Leipzig, Chemnitz, Dresden) gehören ja derzeit nicht zu den Antreibern der Inzidenz-Dynamik. Doch was treibt das "Hinterland"?

Ein Begriff, der mir in diesem Zusammenhang immer wieder in den Kopf gekommen ist, ist Repräsentationsdefizit. Also Menschen, die sich staatlich wenig repräsentiert fühlen. Man kommt meiner Meinung nach bei der Einordnung dieses Phänomens analytisch weiter, wenn man nicht einfach nur sagt: Das sind alles Idioten oder Rechtsextreme. Die Gefahr, dabei selbst Vorurteile zu reproduzieren, ist einfach zu groß. Und verdeckt aus meiner Sicht den entscheidenden Punkt: Dass sich diese Impfgegnerschaft innerhalb einer bereits vorhandenen größeren politischen Strömung verortet. Stichwort: bröckelndes Systemvertrauen. 

Vielen Dank für das Gespräch!