Antisemitismus Judenfeindliche Plastik: So geht Zerbst damit um

15. Juni 2022, 08:59 Uhr

Wie geht man mit antijüdischen Plastiken an deutschen Kirchen um? Im Juni 2022 hat der Bundesgerichtshof dazu ein wegweisendes Urteil gefällt: Ein Schmährelief in Wittenberg darf bleiben. Durch eine Bodenplatte und einen Aufsteller mit erläuterndem Text habe die Kirchengemeinde das "Schandmal" in ein "Mahnmal" umgewandelt. Auch an anderen Orten gibt es solche Plastiken, wie an der Kirchenruine St. Nicolai in Zerbst. Hier will man mit einem Gegendenkmal antworten.

St. Nicolai in Zerbst war einst die größte Kirche Sachsen-Anhalts. Ihre Geschichte geht bis in die Romanik zurück. Lange war sie Zentrum des Wirtschaftslebens, umgeben von Märkten und Händlern. Heute ist sie eine Ruine, zerstört durch Bomben im Zweiten Weltkrieg.

Für den Erhalt der Ruine setzt sich der Förderverein St. Nicolai e.V. ein. Den Mitgliedern geht es vor allem darum, das Bauwerk vor dem Verfall zu bewahren. Doch sie treibt auch eine andere wichtige Frage um. Analog zum Fall der Stadtkirche in Wittenberg ist zu klären: Wie geht man mit dem judenfeindlichen Relief um?

Judenhass und die Plastik "Zerbster Sau"

Die "Zerbster Sau" hängt an einem Pfeiler auf vier Meter Höhe an der Nordseite der Ruine, sie ist nicht gleich auf den ersten Blick zu finden, da auf dieser Seite kein Weg entlangführt.                      

Zentrum der Darstellung ist eine Sau, an deren Zitzen Menschen saugen, die spitze Hüte tragen und Juden darstellen. Die Plastik stammt aus dem 15. Jahrhundert, um 1450 soll sie in etwa entstanden sein. Eine Zeit, in der sich der Jahrhunderte alte Judenhass noch mehr verstärkte.

Die Pest in Zerbst

In wessen Auftrag und von wem die Plastik hergestellt wurde, ist heute nicht bekannt. Doch sie entstand in einer Zeit, die für den Ort besonders schwierig war. 1448 suchte die Pest Zerbst heim. 2.000 Einwohner, mehr als ein Drittel, starben. Auch schon während der vorhergegangenen Pestwellen in Westeuropa galten Juden als Verursacher. Ihnen wurde vorgeworfen, durch das Vergiften von Brunnen die Seuche ausgelöst zu haben. Es kam zu brutalen Überfällen, komplette jüdische Gemeinden wurden ausgelöscht. Auch in Mitteleuropa wurden Juden aus den großen Städten des Heiligen Römischen Reiches verjagt.

In diesem Zeitraum entstanden solche Schmähplastiken in denen sich der Hass auf Juden ausdrückte. Sie werden verhöhnt, in dem sie in intimen Kontakt mit dem im Judentum als unrein geltenden Schwein gezeigt werden. So ist anzunehmen, dass auch das Relief in Zerbst auf den ausufernden Judenhass während der Pest-Epidemie zurückzuführen ist.

Der Höhepunkt jahrhundertelanger Verfolgung

Bis in die Zeit des frühen Christentums reichen die Wurzeln von Antisemitismus. Der folgenreiche Vorwurf, "die Juden sind Schuld an der Kreuzigung Christi", zog sich fortan durch die Jahrhunderte. Mit der Ausbreitung des Christentums im Römischen Reich und der Anerkennung als Staatsreligion verbreitete er sich und schürte zusätzlich antisemitische Stereotype. Weitere Anlässe für Judenhass entstanden, wenn sich soziale, wirtschaftliche und religiös-kulturelle Veränderungen ergaben. Je nach "Bedarf" wurde Juden eine neue Verunglimpfung zugeschoben. Ein Beispiel ist die Beschimpfung als Wucherer:

Weil sie im Mittelalter von vielem ausgeschlossen waren, mit dem Geld verdient werden konnte wie z.B. dem Handwerk, den geistigen Ständen und vielen Wirtschaftszweigen, mussten sie sich andere Wege suchen. Für sie galt das christliche Zinsverbot nicht. Aus der Einkommensnot heraus begaben sich viele Juden in diese Nische. Und es entstand das sich leider bis heute hartnäckig haltende Vorurteil "Juden sind Abzocker, Wucherer".  

Geschichte beseitigen?

Schmähbilder wie in Zerbst und Wittenberg gibt es an vielen weiteren Orten in Deutschland, aber auch europaweit, unter anderem in Österreich, Belgien und Frankreich. Sie stehen auch dafür, dass sich zum Ende des Mittelalters der Judenhass nicht mehr ausschließlich auf die Religion bezog, sondern auch auf die Herkunft: das Schwein gilt im Christentum als Symbol für den Teufel und dämonisiert Juden damit in besonderer Weise.

In Zerbst gibt es unter den Verantwortlichen einen Konsens, dass die Plastik beleidigend und demütigend ist. Aber sie soll nicht abgehängt werden. Die Kirchengemeinde St. Nicolai und St. Trinitatis Zerbst, die Evangelische Landeskirche Anhalts und auch der Förderverein St. Nicolai wünschen sich Austausch und offenen Umgang mit dem Thema: Gespräche über Ursachen, Entstehung und Hintergründe sind ihnen wichtig – auch um dem neu aufkeimenden offenen Judenhass in Deutschland etwas entgegenzusetzen.

Ein Gegendenkmal

Nach fast 600 Jahren Verunglimpfung und Diskriminierung soll nun eine Stätte der Begegnung und Verständigung entstehen. Deshalb rief das evangelische Regionalpfarramt Zerbst-Lindau zusammen mit dem Förderverein dazu auf, Vorschläge für die Gestaltung eines Gegendenkmals einzureichen. Dem Schlechten soll etwas Gutes entgegengesetzt werden. Seit Anfang 2022 hängt immerhin schon eine Tafel, die auf den entsetzlichen Hohn und Spott in der Plastik hinweist und sie einordnet.

Die Planungen für das Entstehen des Denkmals sind in vollem Gange. Zum Ende der Bewerbungsfrist im März wurden zehn Vorschläge von Künstlern für ein Gegendenkmal eingereicht, die derzeit gesichtet werden. Auch aus der Partnerstadt Nürtingen und von Kunsthochschulen aus der Umgebung von Zerbst gab es Ideen. Und so entsteht demnächst ein Gegenentwurf, der klarmachen soll: Judenhass hat hier nichts zu suchen.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 30. Mai 2022 | 07:10 Uhr