Eine Kombo zeigt Fahndungsbilder von Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos
Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos konnten über Jahre unerkannt im Untergrund ihre Verbrechen planen und ausführen. Bildrechte: picture alliance / dpa | Frank Doebert

Rechtsextremismus und Staatsversagen Vor fünf Jahren wurde das Urteil im NSU-Prozess gefällt

11. Juli 2023, 05:00 Uhr

Zehn Morde, 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle - das ist die traurige Bilanz des "Nationalsozialistischen Untergrunds", kurz NSU. Obwohl seit Beginn des NSU-Prozesses zehn Jahre und seit der Urteilsverkündung fünf Jahre vergangen sind, bleiben viele Fragen ungeklärt. Es steht der Verdacht im Raum, dass es viele unbekannte NSU-Mittäter gibt, die nicht belangt wurden. Aus Sicht der Opferfamilien und vieler Bürger hat der Rechtsstaat im Umgang mit dem NSU versagt.

Hohe Erwartungen wurden an den Mammutprozess von München geknüpft: Wer hat die Kerntruppe des NSU – Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe und Uwe Mundlos – unterstützt? Wo haben die Behörden versagt? Warum wurden zunächst die Angehörigen der Opfer verdächtigt? Und viele fragten sich: Kann so etwas wieder passieren?

Was ist der NSU?

NSU steht für "Nationalsozialistischer Untergrund" - eine neonazistische terroristische Vereinigung, deren Haupttäter Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe waren. Zwischen 2000 und 2007 ermordeten sie zehn Menschen, verübten 43 Mordversuche und drei Sprengstoffanschläge.

NSU-Prozess brachte keine Aufklärung

Zehn Jahre nach Prozessbeginn und fünf Jahre nach dem Urteilsspruch zieht Semiya Şimşek im April 2023 ein bitteres Fazit: "Wir hatten einen Prozess, der aufklären sollte. War der aufklärend? Nein, denn ich kenne diese Netzwerke immer noch nicht. Ich weiß nicht, warum ausgerechnet mein Vater sterben musste."

Semiya Şimşek, Tochter des ersten NSU-Opfers, setzt sich für Aufklärung ein
Semiya Şimşek ist Tochter des ersten NSU-Opfers und setzt sich für die Aufklärung der Mordserie ein. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Sie ist die Tochter von Enver Şimşek, dem ersten Mordopfer des "Nationalsozialistischen Untergrunds". Der türkischstämmige Blumenhändler war am 9. September 2000 in Nürnberg ermordet worden. Zunächst hatten die Ermittlungsbehörden geglaubt, es handele sich um eine Gewalttat im Drogenmilieu oder im Bereich der organisierten Kriminalität. Auch die Familie von Enver Şimşek wurde verdächtigt. Eifersucht und Habgier wurden als Motive vermutet.

Auch bei anderen Mordopfern des "Nationalsozialistischen Untergrunds" mit türkischem Migrationshintergrund glaubte die Polizei ebenfalls an eine Mordserie im Milieu der organisierten Kriminalität. Zwischen 2000 und 2007  töteten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt neben Enver Şimşek noch Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Die Polizei tappte bei der Suche nach den Tätern lange im Dunkeln. Viele Opfer waren mit einer Pistole vom Typ Ceska umgebracht worden.

Eine Gruppe Menschen mit einen Transparent demonstrieren auf einer Starße. 30 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Durch Zufall kommen die Zusammenhänge ans Licht

Am 4. November 2011 explodierte in Eisenach ein Wohnmobil. Darin wurden die Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gefunden, die sich nach einem missglückten Banküberfall selbst erschossen hatten. In den Trümmerteilen des Wohnmobils fanden die Ermittler die Ceska-Pistole, die bei den meisten Taten zum Einsatz gekommen war. Schnell wird klar: Es handelte sich um eine bis dahin beispiellose rechtsradikale Mordserie.

Feuerwehrleute und Polizisten stehen am 04.11.2011 in Eisenach vor einem qualmenden Wohnmobil
Die NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos haben in einem Wohnmobil in Eisenach Suizid begangen. Bildrechte: picture alliance / dpa | Carolin Lemuth

In Zwickau, dem letzten Rückzugsort der NSU-Terroristen, erfuhr Beate Zschäpe wenig später vom Tod von Mundlos und Böhnhardt. Sie zündete die Wohnung an und floh. Einen Tag später verschickte sie die Bekennervideos des Nationalsozialistischen Untergrunds an Zeitungen, Moscheevereine und einen rechten Verlag. Nach einer tagelangen Irrfahrt durch Deutschland stellte sie sich am 8. November 2011 den Behörden. Bei Semiya Şimşek hat sich niemand gemeldet, um sie davon zu informieren. Sie hörte im Radio vom Ende des NSU.

Keiner hat bei uns angerufen. Die Erkenntnis, dass mein Vater aufgrund seiner Herkunft sterben musste und in diesem Land, in dem wir geboren wurden, das war für uns schockierend.

Semiya Şimşek

Angela Merkel versprach Aufklärung - doch die blieb aus

Ab dem 6. Mai 2013 wurde vor dem Oberlandesgericht in München gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte verhandelt. Viele Familienangehörige der NSU-Opfer waren aus ganz Deutschland mit großen Erwartungen zum Prozess gekommen. Sie wollten wissen, warum ausgerechnet ihr Ehemann, Vater, Bruder oder Sohn sterben musste. Wer hatte das NSU-Kerntrio unterstützt, die Opfer und die Tatorte ausgekundschaftet? Und welche Fehler haben die Behörden bei der Aufklärung der Mordtaten gemacht? Was wurde vertuscht? Schließlich hatte sogar die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der Trauerfeier für die Opfer des NSU versprochen, man werde alles tun, um die Hintermänner und Helfershelfer ihrer gerechten Strafe zuzuführen und die Morde aufzuklären.

Darauf hatte auch die Rechtsanwältin Seda Basay Yildiz gehofft. Sie hatte als Nebenklageanwältin die Familie von Enver Şimşek vertreten. Sie warf den Ermittlern schwere Fehler vor, wie die jahrelange Kriminalisierung der Angehörigen der Opfer und kritisierte, dass den Spuren zu einem möglichen Unterstützernetz des NSU-Trios nicht nachgegangen worden sei. Ihr Fazit zehn Jahre später fällt bitter aus: Der Rechtsstaat habe versagt.

Da hat der Rechtsstaat versagt, weil hier sehr viel Vertrauen kaputtgegangen ist. Es wäre die Möglichkeit gewesen, dieses Vertrauen wieder herzustellen. Diese Chance wurde einfach nicht genutzt.

Seda Basay Yildiz, Rechtsanwältin

Hätte der NSU gestoppt werden können?

Gunnar Breske war als Berichterstatter für den Mitteldeutschen Rundfunk beim NSU-Prozess akkreditiert. Wie die drei NSU-Täter stammt auch Breske aus Jena und ist nur wenige Jahre nach Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe geboren. Er glaubt, die Terroristen hätten früh, noch in Jena, gestoppt werden können, hätten Polizei und Behörden keine Fehler gemacht.

Gunnar Breske
Gunnar Breske stammt aus Jena und hat für den MDR vom NSU-Prozess in München berichtet. Bildrechte: MDR/Marco Prosch

Breske kennt die Jenaer Schauplätze des Nationalsozialistischen Untergrunds genau – wie die Garage, in der Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos Sprengstoff, Rohrbomben und rechtsradikales Propagandamaterial lagerten. Am 26. Januar 1998 durchsuchte die Polizei den Garagenkomplex in Jena. Zunächst fanden sie nicht die richtige Garage. In der Zwischenzeit floh Uwe Böhnhardt, der bei der Durchsuchung dabei war. Als die Ermittler fündig werden und die Dimension erkennen, ist das NSU-Trio auf der Flucht. Gunnar Breske ist sich heute sicher:

Wenn das alles ansatzweise korrekt gelaufen wäre bei der Durchsuchung dieser Garagen, hätte das alles enden können, bevor es angefangen hat.

Gunnar Breske, Berichterstatter beim NSU-Prozess

In den fünf Jahren, die der Prozess in München dauerte, berichtete Breske immer wieder als Fernsehreporter über die aktuellen Entwicklungen, auch am Tag der Urteilsverkündung am 11. Juli 2018.

Beate Zschäpe wurde wegen zehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Ihre Mitangeklagten kamen mit vergleichsweise milden Haftstrafen davon. Viele Fragen sind nicht beantwortet, so Gunnar Breske. Warum wurden ausgerechnet diese Opfer ausgewählt? Wer hat geholfen? Sein Resümee heute: "All das ist unbeantwortet und ich bin mir nicht sicher, ob tatsächlich noch Antworten gefunden werden. Ich denke, eher nicht."

Jena in den 90ern: Straßenjagden auf Andersdenkende

Auch Katharina König-Preuss hat in den 90er-Jahren in Jena gelebt. Heute sitzt sie für die Links-Partei im Thüringer Landtag. Als Jugendliche erlebte sie, wie die Neonazis die Straße in Jena dominierten und Jagd auf diejenigen machten, die anders dachten und anders aussahen. Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gehörten zu diesen Rechtsextremen.

Katharina König-Preuss, Politikerin, Linkspartei, Landtagsabgeordnete Thüringen
Die Linke-Politikerin Katharina König-Preuss hat in den 90er-Jahren in Jena erlebt, wie Rechtsextreme Jagd auf Menschen machten, die ihnen nicht passten. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Bis heute beschäftigt sich König-Preuss mit den rechtsradiklen Umtrieben in Deutschland und besonders in ihrer Heimatregion Thüringen. So etwas wie der "Nationalsozialistische Untergrund" könne jederzeit wieder entstehen, befürchtet sie: "Die Ideologie ist ja weiterhin verbreitet und die Strukturen, die bereit sind, einen sogenannten Tag X umzusetzen, sind viel größer als man gesellschaftlich so als Wissen zur Verfügung hat. Und von daher – rechtsterroristische Strukturen, die bereit sind, Morde zu begehen, die gibt es aktuell. Und die einzige Frage ist, ob es gelingt, die aufzuhalten."

Aufklären, damit sich Geschichte nicht wiederholt

Semiya Şimşek, die Tochter des ersten NSU-Mordopfers, kämpft weiter um Aufklärung. Sie lebt inzwischen mit ihrer Familie in der Türkei und kommt immer wieder nach Deutschland, geht zu Demonstrationen, spricht auf Podien und Diskussionsveranstaltungen. Das sei sie ihrem toten Vater schuldig, glaubt sie – aufzuklären und aufzurütteln. Damit so etwas nie wieder passieren kann.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise - NSU und kein Ende - Staatsversagen, Opferleid und Rassismus | 07. Mai 2023 | 22:20 Uhr

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