Angriffe auf Asylbewerberheim

15. November 2017, 12:38 Uhr

Die ausländerfeindlichen Ausschreitungen der Nachwendejahre hatten viele schreckliche und beschämende Auswirkungen. Seine hässliche Fratze zeigte der Fremdenhass aber nicht nur in Mölln, Rostock oder Solingen. Auch in Mitteldeutschland wurde gewalttätiger Rassismus zur traurigen Realität. Er erreichte 1997 auch die beschauliche Bode-Stadt Quedlinburg im Harz.

Die Stadt Quedlinburg im Harzkreis ist vor allem für ihre mittelalterliche Geschichte und ihr architektonisches Erbe weltbekannt. Das Quedlinburger Stift und der Domschatz zeugen noch heute von der großen Bedeutung der Stadt als ottonische Pfalz. Doch 1997 war von einem kulturvollen Miteinander nichts zu spüren: Jugendliche belagerten das nahe gelegene Asylbewerberheim, warfen Steine und Molotowcocktails. Schaulustige applaudierten und auch das Fernsehen war vor Ort. Doch bald stellten sich couragierte Bürger zwischen Asylbewerber, Schaulustige und einen wütenden Mob.

Mit Steinen fing es an

Die Euphorie der deutschen Einheit schien auch in Quedlinburg dem Frust über Betriebsschließungen und Arbeitslosigkeit gewichen zu sein. Die neuen Verhältnisse, in denen man nun lebte, brachten nicht nur die vielzitierten blühenden Landschaften, sondern auch Aufgaben und Herausforderungen für Stadt und Bürger mit sich.

Was einst zentral aus Berlin gesteuert wurde, musste nun vor Ort und Stelle geklärt werden. Das galt unter anderem auch für die Unterbringung von Asylbewerbern in den Kommunen. In Quedlinburg wurde dafür ein ehemaliges Betriebsinternat in der Oeringer Straße hergerichtet. Die dort untergebrachten Rumänen und Vietnamesen blieben weitestgehend unter sich.

Die Stimmung war ja generell, unabhängig von dieser Stadt, ziemlich aufgeladen. Es war ja ziemlich kurz nach der Wende, es war eine ziemlich nationalistische Stimmung, die war auch gleichzeitig sehr rassistisch, das hat man mitgekriegt.

Der Quedlinburger Martin Heinlein, Jahrgang 1976

Nur wenige Tage nach den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen, am Sonnabend, dem 6. September, flog aus einer Gruppe von Jugendlichen der erste Stein. Was die Polizei an diesem Abend noch verhindern konnte, brach sich unter den Augen Schaulustiger am darauf folgenden Sonntag seine Bahn mit Molotowcocktails. Zeitzeugen sprechen heute von über 50 Neonazis, die nicht nur aus der Stadt selbst gekommen seien, um ein gefährliches Gemisch aus Frust und Fremdenhass zu entzünden.

Eine Woche im September

Die folgende Woche ging als eine der dunkelsten in die Stadtchronik ein. Mit jedem Tag zogen die Geschehnisse in der Oeringer Straße mehr Schaulustige an, aber auch Ortsfremde aus der rechten und linken Szene. Zeitzeugen berichten heute von Berliner, Goslarer und Frankfurter Kennzeichen, die während des Ausnahmezustandes in der Stadt gesehen worden waren. Mutige Bürger und auch Vertreter der Stadt stellten sich zwischen den Mob und den Menschen im Heim. Der wachsenden Anzahl auf beiden Seiten konnte die Polizei aus Quedlinburg und den Nachbarstädten Wernigerode und Halberstadt mit gerade einmal 30 Beamten nicht mehr Herr werden. Erst in der Nacht von Montag auf Dienstag erreicht die Bereitschaftspolizei aus Magdeburg das Pulverfass im Harz. Eine Mahnwache aus Bürgern und Kommunalpolitikern fand sich zusammen und bewachte nun unter den Augen der Polizei das Heim, doch dem Spuk war immer noch kein Ende gesetzt.

Es war eine sehr reale Bedrohung und wirklich auch eine Bedrohung für Leib und Leben. (…) Wir waren ja quasi nur die Stellvertreter. Wir haben uns davor gestellt, um die Flüchtlinge in diesem Heim zu beschützen und sind dafür angegriffen worden. Aber was wäre passiert, wenn sich tatsächlich einen der Flüchtlinge in die Hand gekriegt hätten?

Martin Heinlein

Die entfesselte Gewalt führte zu Übergriffen auf die Mahnwache und auch auf die Polizisten. Erst am Donnerstag gelang es der Polizei mit über 150 Beamten in den Teufelstanz der 500 Gewaltbereiten und Schaulustigen auf der einen und 250 Autonomen auf der anderen Seite einzugreifen.

Evakuierung der Asylbewerber

Bereits über 80 Heimbewohner waren in diesen Tagen aus Quedlinburg geflohen und auch das nahende Wochenende schürte die Angst vor noch größeren Ausschreitungen. Der Landkreis suchte händeringend nach Ausweichunterkünften für die Betroffenen. Tatsächlich reisten an dem Wochenende weitere Demonstranten nach Quedlinburg. Straßensperren und Polizeikontrollen gehörten in diesen Tagen zum Stadtbild.

Nachdem die Stadt und ihre Bürger ein weiteres Wochenende im Ausnahmezustand überstanden hatten, bei dem nunmehr nicht nur die Bürger und Politiker der Mahnwache unter den Augen der Polizei, sondern auch Sanitäter und Krankenwagen in das "Feuer" der Steinewerfer geraten waren, wurde an höchster Stelle über das Schicksal der verbliebenen Menschen im Heim entschieden. Der damalige Innenminister Sachsen-Anhalts, Hartmut Perschau, ordnete ohne Rücksprache mit der Stadt die Räumung des Heims und die Unterbringung in anderen Kommunen Sachsen-Anhalts an.

Es dauerte noch, bis wieder Ruhe in die Stadt und den gesamten Landkreis eingekehrt waren. Die Geschehnisse in Quedlinburg lösten nicht nur im Bundesland eine Debatte darüber aus, ob die Gesellschaft vor der Gewalt kapituliert hatte und welche Rolle die Polizei in solchen Ausnahmesituationen künftig spielen.

Über dieses Thema berichtete der MDR im TV: Exakt - Die Story | 15.11.2017 | 20:45 Uhr