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Eine Demo gegen Diskriminierung der Roma in Tschechien (Ústí nad Labem, 2021) Bildrechte: IMAGO / CTK Photo

TschechienRoma-Integration: Mauern in den Köpfen

21. Mai 2014, 14:39 Uhr

Wenn von Ústí nad Labem die Rede ist, fällt schnell das Stichwort Mauer. Die nordböhmische Stadt war 1999 weltweit in die Schlagzeilen geraten, als sie eine 65 Meter lange Betonwand zwischen einer Einfamilienhaus-Siedlung von "einheimischen" Tschechen und einem Roma-Viertel bauen ließ.

100 "Schwarze" – wie die Roma in Tschechien genannt werden - auf der einen Seite der Matiční-Straße, 35 "weiße" Tschechen auf der anderen Seite, die sich von den Müllbergen, dem Gestank und dem Lärm der Roma belästigt fühlten. "Früher war es so schön hier", erzählt eine Anwohnerin damals. "Seit die Stadt den Abfall wieder abholen lässt, rennen immerhin die Ratten nicht mehr herum." Ihr Häuschen könne sie nur zum Schleuderpreis loswerden, "weil da drüben Zigeuner leben."

Zwei Lebenswelten, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, prallten in dieser Straße aufeinander. Die Roma in der Matiční-Straße waren wie die meisten Roma im Land zu 90 Prozent arbeitslos. Ihr Tagesablauf unterschied sich deutlich von dem der Tschechen, die im Berufsleben stehen. Unterschiede gab es auch bei der Familienstruktur. Kinder spielen für Roma eine wichtige Rolle: "Kinder und Geld gibt es nie genug", heißt ein Sprichwort. Die Geburtenrate ist mit 4,2 Kindern pro Frau etwa vier mal so hoch wie bei tschechischen Familien. Größere Familien bedeuten ein umfangreicheres soziales Netzwerk und damit auch mehr Lärm und mehr Müll - schwer nachvollziehbar für Tschechen, die andere Lebensideale haben. Der Konflikt zwischen "weißen" und "schwarzen" Tschechen schwelte schon seit 1995. Die Mauer war schließlich das Ergebnis der jahrelangen Auseinandersetzung.

Die Mauer fällt, das Problem bleibt

Die als Lärmschutzmauer deklarierte knapp zwei Meter hohe Wand, die laut Bürgermeister Ladislav Hruska von der konservativen Bürgerpartei ODS weder gegen Bau- noch Menschenrechte verstoßen hatte, stand nur sechs Wochen, dann ließ sie der Stadtrat von Ústí nad Labem wieder abreißen. Zu groß war der weltweite Aufschrei gegen dieses "Mahnmal der menschlichen Überheblichkeit und des Stumpfsinns" wie Tschechiens Präsident Vaclav Havel das Bauwerk nannte. "Die EU kann die Mauer nicht tolerieren", sagte der für die EU-Erweiterung zuständige Kommissar Günter Verheugen damals und warnte, dass das Bauwerk die Aufnahme des Landes in die EU gefährden könne. Ein Risiko, das man in Tschechien nicht eingehen wollte.

Die Mauer – das augenscheinliche Symbol für das gestörte Verhältnis – verschwand, nicht aber das negative Image der Stadt und die Mauer in den Köpfen zwischen "Weißen" und "Schwarzen". Die Häuser in der Matiční-Straße stehen inzwischen leer, die Tschechen konnten dank staatlicher Unterstützung ihre Häuser verkaufen, aber auch die Roma sind in andere Stadtteile gezogen. Der Konflikt hat sich damit aber lediglich an einen anderen Ort verlagert, denn auch anderswo sind die Roma nicht willkommen: Drei Viertel der Tschechen, so eine Umfrage, möchten Roma nicht als Nachbarn haben. "Für uns ist es so gut wie unmöglich, eine Wohnung in einer normalen Wohngegend zu finden. Wenn Du Roma bist, bekommst Du keine Wohnung in gutem Zustand", erzählt eine Betroffene.

Etwa ein Drittel der etwa 250.000 Roma im Land lebt in ghettoartigen Vierteln unter unzumutbaren Bedingungen – oft ohne Wasser und Strom und hoffnungslos überbevölkert und verdreckt. Die überwiegend arbeitslosen Roma sind auf staatliche Sozialhilfe angewiesen, um aber Sozialhilfe zu bekommen, müssen sie einen festen Wohnsitz nachweisen. Das wiederum treibt die Roma in die Hände von skrupellosen Mietwucherern, die den allerorts ungeliebten Roma gegen horrende Preise eine winzige Bleibe auf engstem Raum mit anderen Familien bieten. Lärm, Müll, Gestank, Kriminalität sind zwangsläufige Begleiterscheinungen. Und die Zahl der ghettoartigen Viertel steigt immer weiter. Über 400 solcher Ghettos, die an Slums in Entwicklungsländern erinnern, gibt es nach Einschätzung der Regierungsagentur für soziale Integration momentan.

Teufelskreis von Arbeitslosigkeit und Armut

Für Kinder aus Roma-Ghettos ist es kaum möglich, diesem Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, Armut und Ablehnung zu entkommen. Sie haben kaum Chancen auf vernünftige Bildung. Rund 50 Prozent der Roma-Kinder werden gleich in Sonderschulen für geistig Behinderte abgeschoben. Die Aussicht auf einen Arbeitsplatz ist damit hoffnungslos. Mit der Zahl der Ghettos wächst auch der Unmut der Tschechen gegenüber den "Schwarzen". Das wurde im Sommer 2013 deutlich, als es vor allem in Nordböhmen zu zahlreichen pogromartigen Anti-Roma-Märschen neonazistischer Gruppen kam. Das Erschreckende dabei ist jedoch, dass sich die Ablehnung der Roma quer durch alle Bevölkerungsschichten zieht. Der strukturschwache Norden des Landes leidet besonders unter der europäischen Wirtschaftskrise, eine hohe Arbeitslosenquote von 13 bis 14 Prozent (2013) unter der einheimischen tschechischen Bevölkerung ist die Folge. In einer Umfrage im Kreis Ústí gaben 78 Prozent der Befragten, an, dass sie das Zusammenleben von Tschechen und Roma als größtes Problem innerhalb des Kreises betrachten. Zweitgrößtes Problem sei der Mangel an Arbeitsplätzen, gefolgt von hoher Kriminalität und Korruption.

Hoffnung kommt aus Obrnice

Mitte 2011 haben alle EU-Mitgliedsländer ein sogenanntes nationales "Roma-Strategiepapier" erarbeitet, wie sie die Situation der Minderheit bis zum Jahr 2020 in den Bereichen Bildung, Beschäftigung, Gesundheitsfürsorge und Wohnraum verbessern wollen. Fernab dieser theoretischen Überlegungen gibt es aber auch in Tschechien Bürger, die schon jetzt nach praktischen Lösungen für ein friedliches Zusammenleben suchen, zum Beispiel in der Gemeinde Obrnice, etwa 35 Kilometer entfernt von Ústí nad Labem. Bürgermeisterin Drahomíra Miklošová hat die Integration der Roma zur Chefsache gemacht, denn die Hälfte der nordböhmischen 2.400-Seelen-Gemeinde sind Roma.

Und im Prinzip hat sie genau in den vier von der EU gewünschten vier Bereichen Lösungen im Kleinen gefunden. Als erstes hat sie sich um bezahlbaren Wohnraum für die Roma gekümmert, indem die Gemeinde mehrere privatisierte Wohnungen zurückgekauft hat. Und sie hat etwas gegen die Kriminalität getan. Die Gemeinde organisiert einen Wachdienst: Roma sorgen selbst für Sicherheit. Damit hat sie gleichzeitig auch noch das Beschäftigungsproblem gelöst.

Mitten im Dorf gibt es jetzt außerdem ein Sozialzentrum, wo darauf geachtet wird, dass Kinder und Jugendliche nach der Schule ihre Hausaufgaben machen können. Und im Kindergarten und in der Schule lernen Roma und Nicht-Roma wie selbstverständlich nebeneinander. "Aufmärsche von Rechtsradikalen? Das würde unsere Bürgermeisterin gar nicht erlauben", erzählen die Bürger den Journalisten von Radio Prag. Für ihr Engagement wurde Drahomíra Miklošová vom Europarat ausgezeichnet. "Eigentlich", sagt Bürgermeisterin von Obrnice, "ist es doch eine ganz einfache Sache, wenn es Probleme gibt, muss man miteinander reden". In Obrnice jedenfalls versucht man, auch die Mauern in den Köpfen abzubauen.