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Sexwelle nach dem MauerfallBeobachtungen eines Sexualforschers nach der Wende

19. März 2020, 13:08 Uhr

Als Konrad Weller kurz nach dem Mauerfall beobachtet, wie seine Landsleute neugierig, manchmal auch naiv und zuweilen hemmungslos die Sexshops, Peepshows und Pornokinos stürmen, sind seine Gefühle gemischt. Einerseits weiß der Sexualwissenschaftler, wie viel man auch auf diesem Gebiet den DDR-Bürgern vorenthalten hat. Andererseits steckt hinter all der neuen Freizügigkeit auch ein Geschäft - eine ganze Industrie. Und das Thema Sex bekommt in den Medien einen ganz anderen Stellenwert.

Zuerst fluteten die Ossis hinaus und stürmten mit 100 D-Mark Begrüßungsgeld auch die Sex- und Video-Shops ... Aber es ging nicht nur um eine neue Freizügigkeit – die nun gottseidank da war – es ging auch darum, mit der neuen Kundschaft Geld zu verdienen.

Konrad Weller | Aus: Das Sexuelle in der deutsch-deutschen Vereinigung, Leipzig 1991

Im Nachhinein ärgert es Konrad Weller, dass die Medien sich auf den Ossi im Sexshop gestürzt haben. Sie hätten ihn auch im Baumarkt oder Elektronikgeschäft treffen und "studieren" können, meint er. Aber dort sei das Ambiente natürlich nicht so spektakulär gewesen. Und der Fachmann für Sexualität wird noch an anderer Stelle überrascht. Der Westen bringt nicht nur eine neue Freizügigkeit in Sachen Sex und das brummende Geschäft damit nach Ostdeutschland, sondern auch eine gewisse Prüderie, die er längst überwunden glaubte. Weller erlebt diese Kehrseite während eines Urlaubs an der Ostsee im Sommer 1990:

Die Nacktheit verliert ihre Unschuld

Es gab relativ viele westdeutsche Urlauber an diesen ostdeutschen Ostseestränden, die sich irritiert zeigten über dieses Halbnackte, Ganznackte, also dieses ungeordnete Nacktsein. Das massenhafte Nacktsein.

Die Ostdeutschen wiederum, so erinnert sich Weller auch an seine eigene Empfindung, sind etwas irritiert, dass es abends in der Hafenbar jetzt Striptease gibt. Die unbefangene "volkseigene Nacktheit der Ostdeutschen" habe ganz schnell ihre Unschuld verloren.

Orgasmus zwischen den Fronten der Wiedervereinigung

Unterdessen titelt eine große deutsche Boulevardzeitung: "DDR-Frauen kriegen öfter einen Orgasmus". Es ist dies ein deutsch-deutsches Forschungsergebnis, denn der bekannte DDR-Soziologe Kurt Starke und Konrad Weller erforschten zusammen mit dem westdeutschen Wissenschaftler Gunter Schmidt schon seit den 1980er-Jahren das Sexualverhalten von Jugendlichen in Ost und West. 1988 schlussfolgern die Experten, dass die jungen Frauen in der DDR mehr Orgasmen hatten als ihre Altersgenossinnen in der BRD. Nur interessierte das außerhalb der Fachkreise niemanden.


Der ostdeutsche Sexualwissenschaftler macht nun Erfahrungen mit der Berichterstattung der Boulevardpresse. Die Redakteure hätten nicht dulden können, dass so etwas Vitales wie der Orgasmus von Frauen im Osten besser gewesen sein sollte. Der Höhepunkt des sexuellen Lustlebens sei bei der Wiederverereinigung politisiert worden, gewissermaßen zwischen die Fronten geraten, analysiert Weller:

Und sie haben dann die Schlagzeile entwickelt: 'Der Orgasmusprofessor spinnt.' Und es gab dann viele O-Töne junger Frauen aus Leipzig: 'Nein, wir haben nicht mehr Orgasmen. Ich sitze den ganzen Tag an der Kasse und bin abends müde.'

Ostfrau zwischen Mythos und Prostitution

Dessen ungeachtet genießt die Ostfrau im wiedervereinigten Deutschland einen guten Ruf. Sie gilt als emanzipiert, ohne männerfeindlich und verbissen zu sein, als offen und unkompliziert. Meist berufstätig, kennen die ostdeutschen Frauen kaum die finanzielle und damit auch sexuelle Abhängigkeit vom Mann. Sie verlieben sich schnell, bekommen früh Kinder und lassen sich auch schnell wieder scheiden, wenn sich der Partner keine Mühe mit der Beziehung und Familie gibt.

Dann taucht eine Zahl in der Öffentlichkeit auf, nach der unzählige DDR-Frauen vor der Wende Sex gegen Bezahlung angeboten haben sollen. Wissenschaftler wie Konrad Weller sind wieder gefragt:

Der Rostocker Überseehafen führte zu einer bestimmten Prostituiertenszene, zur Leipziger Messe gab es das, es gab die Nachtbars in den Devisenhotels und es gab auch in verschiedenen großen Städten das, was man Straßenstrich nennt.

Die Sexualforscher untersuchen auch das. Ihre Studie von 1990 ergibt, dass ein Prozent der befragten Frauen schon einmal Sex gegen Geld gemacht haben. Hochgerechnet hätten sich laut Weller etwa 30.000 prostituiert.

Was ist 2014 anders?

Die Sexualwissenschaftler an der Hochschule in Merseburg forschen weiter zum Sexualverhalten junger Ostdeutscher. Sie führen ihre Befragungen über die 90er-Jahre hinweg durch, dann noch einmal 2004 und 2014. Die Jugendlichen wachsen 2014 unter ganz anderen gesellschaftlichen Verhältnissen auf, es gibt mehr Offenheit und Diskussion, aber die Pornografie ist durch das Internet allgegenwärtig. Eine Verrohung der Jugend wird vermutet, mehr Gewalt in Beziehungen oder gar Beziehungsunfähigkeit. Doch es treten erstaunliche Kontinuitäten zu Tage.

Die Jugendlichen haben nach wie vor ein ganz romantisches Liebes- und Treueideal. Und es wollen genauso viele heiraten und Kinder kriegen wie 1990. Aber was sich gravierend verändert hat, ist die Umsetzung dieser Wünsche. Das sogenannte Erstgebäralter und das Heiratsalter haben sich um sieben Jahre erhöht. Von Anfang 20 auf um die 30. Im Westen hat es sich auch nach oben verlagert, um vier Jahre.

Daraus schlussfolgert der Merseburger Sexualwissenschaftler, dass es nun komplizierter ist, die Ideale und Wünsche bezüglich Partnerschaft und Familie umzusetzen.

Konrad WellerDer Diplompsychologe, Jahrgang 1954, forscht und lehrt als Professor am Institut für Angewandte Sexualwissenschaft der Hochschule Merseburg. Sein Spezialgebiet sind die Psychologie und Soziologie der Sexualität. Weller arbeitete auch als Berater bei Pro Familia, einem bundesweiten Verbund von Beratungsstellen für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung.

(zuerst veröffentlicht am 13.04.2018)

Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV:Sex Shop DDR - Wildwest nach der Wende (1/2) | 19.03.2019 | 22:05 Uhr
Sex Shop DDR - Wildwest nach der Wende (2/2) | 26.03.2019 | 22:05 Uhr