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Das Gemälde zeigt Stalins Tochter Swetlana vor dem aufgebahrten Vater. Der Maler setzte Swetlana als Kind in Szene, dabei war sie 1953 bereits 27 Jahre alt. Bildrechte: imago/Russian Look

SowjetunionVergessene Tragödie bei Stalins Aufbahrung

Stand: 27. April 2023, 14:26 Uhr

Jahrzehntelang war die Tragödie, die sich am Rande der Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen Josef Stalin am 6. März 1953 ereignete, ein gut gehütetes Staatsgeheimnis: Mehr als 100 Menschen waren damals in Moskau ums Leben gekommen.

Moskau, 6. März 1953. Im "Haus der Gewerkschaften" ist der einen Tag vorher verstorbene Josef Stalin aufgebahrt. Hundertausende Russen strömen ins Moskauer Zentrum, um dem toten Partei- und Staatschef die letzte Ehre zu erweisen. Die Menschen haben sich spontan auf den Weg gemacht. Viele von ihnen weinen. Auch der damals 17-jährige Sergei Chruschtschow, Sohn des späteren KP-Chefs Nikita Chruschtschow, ist dabei: "Es war nicht organisiert, wir gingen ohne Fahnen, ohne dass wir irgendetwas bei uns trugen, wir wollten einfach dorthin gehen."

Menschenmassen bei Stalins Aufbahrung

Und es machten sich nicht nur Moskauer auf den Weg, sondern den ganzen Tag über kamen aus allen Landesteilen Menschen mit dem Zug, dem Auto oder mit Bussen in die Hauptstadt der Sowjetunion. Moskau war hoffnungslos überfüllt. Nirgendwo gab es ein Durchkommen. "Sie sind herbeigeströmt und niemand hat sie geleitet. Und die Miliz war unfähig. Sie hat versucht, die Massen abzudrängen, sie schickte sie im Kreis, es war eine riesige Warteschlange, die sich im Kreise drehte, bis sie dann irgendwann zum Säulensaal gelangte", erinnert sie der Moskauer Edward Radsinski.

Josef Stalin: Ein Leben in Bildern

Stalin, als politischer Kommissar an mehreren Fronten des Bürgerkriegs im Einsatz, mit Revolutionsführer Lenin und dem formellen sowjetischen Staatsoberhaupt Michail Kalinin auf dem 8. Parteitag der Kommunistischen Partei 1919. Lenin, der Stalin als "glänzenden Organisator" schätzt, hatte den georgischen Bankräuber 1912 ins ZK der Bolschewiki berufen. In seinem Testament hatte er allerdings die Genossen vor Stalin gewarnt – er sei sich nicht sicher, ob Stalin mit der Macht, die er besitze, stets sorgfältig umgehen werde. Bildrechte: imago/Russian Look
Josef Stalin mit den Familien einiger ZK-Mitglieder im April 1936. Bildrechte: imago/Russian Look
17.02.1938: Stalin auf einem Landwirtschaftskongress in Moskau. Bildrechte: imago/Russian Look
Stalin mit seiner 1926 geborenen Tochter Swetlana Allilijewa im Jahr 1939. Swetlana wuchs abgeschottet auf und wusste nichts von dem Terror, mit dem ihr treusorgender Vater das ganze Land überzogen hatte. Swetlana Allijewa, die 1967 über Indien in die USA geflohen war und dort als Lana Peters lebte, starb 2011. Bildrechte: imago/Russian Look
Stalin 1941 mit einer seiner Staatskarossen. Bildrechte: imago/Russian Look
17.04.1943: Josef Stalin auf einem Fliegerhorst in Moskau. Bildrechte: imago/Russian Look
Josef Stalin und Klement Gottwald, Vorsitzender der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, im Februar 1953. Bildrechte: imago/Russian Look
Sämtliche Führer der kommunistischen Parteien waren zur Beisetzung am 9. März 1953 nach Moskau gereist, um vom "Führer der fortschrittlichen Menschheit" Abschied zu nehmen. Jedoch: "Nur zwei Trauergäste weinten – sein Sohn Wassili und seine Tochter Swetlana", schrieb der Moskauer "Zeit"-Korrespondent in seiner Reportage von den Trauerfeierlichkeiten. "Die anderen hohen Würdenträger hatten es sehr eilig, vom toten Stalin Abschied zu nehmen." Bildrechte: imago/Russian Look
Stalins Sarg auf einer Lafette auf dem Roten Platz. Bildrechte: IMAGO / Russian Look
Das Gemälde zeigt Stalins Tochter Swetlana vor dem aufgebahrten Vater. Der Maler setzte Swetlana als Kind in Szene, dabei war sie 1953 bereits 27 Jahre alt. (Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: 11.08.2017 | 17:45 Uhr) Bildrechte: imago/Russian Look

Die Menschenmasse drängte immer mehr nach. Es gab kein Entkommen. Vor dem "Haus der Gewerkschaften", in dem Stalin aufgebahrt war, standen Lastkraftwagen, um die Massen fernzuhalten. Die Trauernden wurden nur einzeln ins Gewerkschaftshaus durchgelassen. Edward Radsinski: "Es war wie in einem Fleischwolf. Die Menschen kletterten über diese LKW. Nicht etwa, weil sie so ihr Ziel erreichen wollten, sondern weil die Masse so sehr drängte, dass sie sonst buchstäblich zermalmt worden wären. Sie kletterten auf diese LKW, um nicht zu sterben."

Sowjetunion verheimlicht Tragödie

Augenzeuge der Tragödie bei Stalins Aufbahrung: Sergei Chruschtschow Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

"Studenten haben Kreise gebildet, um unsere Mädchen zu schützen, damit sie dort nicht zerquetscht würden und auch ältere oder schwächere Frauen, die dort waren, hob man hoch und setzte sie in Lastkraftwagen und Militärtransporter", erinnert sich Sergei Chruschtschow. Dennoch: Hunderte Menschen verloren bei der Tragödie, die sich nur wenige Meter vom aufgebahrten Stalin ereignete, ihr Leben: Sie wurden zu Tode gequetscht. Öffentlich wurde diese Tragödie nicht, ganz im Gegenteil. Sie wurde zu einem gut gehüteten Staatsgeheimnis in der Sowjetunion. In der Bevölkerung machten Gerüchte die Runde, es war von vielen Hunderten, ja Tausenden Toten die Rede...

Jewtuschenkos Film "Stalins Begräbnis"

1990, in der Ära von Glasnost und Perestroika unter Michail Gorbatschow, kam ein Film des Dichters und Filmemachers Jewgeni Jewtuschenko in die sowjetischen Kinos: "Stalins Begräbnis". "Dieser Tag, an dem Stalin begraben wurde", sagte Jewtuschenko bei der Premiere, "war ein Umbruch in meinem Leben." Er habe nämlich begriffen, dass künftig niemand mehr für ihn denken würde. Man müsse es nun selber tun, "denken, denken und nochmals denken".

Dichter und Filmemacher Jewgeni Jewtuschenko (2017) Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Jewtuschenko zeigt diesen 6. März 1953 als einen Tag von geradezu apokalyptischer Wucht. In einer Szene wird auch der Tod vieler Trauernder in der Nähe des "Hauses der Gewerkschaften" gezeigt. Es war das erste Mal, dass diese Tragödie am Rande der Trauerfeierlichkeiten öffentliche Erwähnung fand. Wie viele Menschen zu Tode gekommen waren, blieb freilich in Jewtuschenkos Film unklar.

Akten zu Stalins Aufbahrung bis heute geheim

Genaue Opferzahlen gibt es bis heute nicht. Die diesbezüglichen Akten sind nach wie vor gesperrt. Die einzige, gewissermaßen halboffizielle Opferzahl hatte 1962 Kreml-Chef Nikita Chruschtschow in kleiner Runde verkündet. Er sprach von 109 Toten. Ob das der Wahrheit entspricht, ist unklar.

Laut Nikita Chruschtschow kamen 109 Menscheen bei Stalins Aufbahrung ums Leben. Bildrechte: IMAGO / UIG

Und genauso unklar ist immer noch, warum es überhaupt zu der Tragödie gekommen war. Waren die Moskauer Ordnungshüter schlicht überfordert gewesen? Oder hatte eine allgemeine Paralyse angesichts des Todes des allmächtigen Stalins die Tragödie hervorgerufen? Sergei Chruschtschows Erinnerungen lassen jedenfalls beide Deutungen zu : "Es waren Tausende Menschen, die zum Haus der Gewerkaschaft wollten. Es gab keine Organisation. Da war einfach eine riesige Menschenmenge, die sich im Kreis drehte, so wie bei einem großen Schwarm."

Dieser Artikel ist im März 2018 erschienen und wurde im März 2023 überarbeitet.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Das rote Imperium T: 1 | Neuer Mensch und Großer Terror | 28. Februar 2023 | 22:10 Uhr