Rostock-Lichtenhagen 1992: Ein Polizeidebakel

13. Januar 2022, 18:11 Uhr

Rostock-Lichtenhagen – der Stadtteil von Rostock mit mehr als 14.000 Einwohnern, wird in den Tagen zwischen dem 22. und 26. August 1992 Synonym für rechte Gewalt und eine überforderte Polizei. Jürgen Deckert ist damals Einsatzleiter. Er erzählt, wie er die Tage erlebte, wie die Umstände in der ostdeutschen Polizei zu der Zeit waren und er räumt Fehler ein.

Schauplatz der Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen ist das heute als Sonnenblumenhaus bekannte Gebäude, ein in den 1970er-Jahren gebauter Plattenbau. Hier befindet sich nach der Wende die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst). Frauen, Kinder, Männer drängen sich auf engstem Raum, die Kapazitäten sind längst überschritten, teilweise müssen die Menschen auf der Wiese vor dem ZAst kampieren. Die Situation verschärft sich über Monate, ohne dass die Stadt oder das Land etwas daran ändern. Eine Woche vor den Ausschreitungen kündigen Rechtsextreme Aktionen gegen das Sonnenblumenhaus an, sollte es bis zum Wochenende 22./23. August nicht geräumt sein.

Die Polizeiführer fahren ins Wochenende

Trotz der Ankündigung und der angespannten Lage fahren die leitenden Polizisten an dem Wochenende nach Hause – in die westdeutschen Bundesländer. Die Struktur ist typisch für die Zeit nach der deutsch-deutschen Einheit. Leitende Positionen der Polizei sind meist mit Westdeutschen besetzt, die die Wochenenden in der Heimat verbringen. Einer von ihnen ist Jürgen Deckert. Er ist damals Leiter des Führungstabs der Polizeidirektion Rostock, seine Familie wohnt in Bremen, wohin er am Freitag nach Feierabend fährt. Heute sagt er: "Was keiner zu diesem Zeitpunkt, zumindest nehme ich das für mich in Anspruch, in der Form erwartet hat, ist, dass die Bevölkerung so einsteigt. Auch für den Sonnabend haben wir gesagt: Da gehen die doch nicht auf die Straße, da passiert nichts. Die machen Freitag Feierabend und dann sind die weg." Doch mit dieser Annahme liegen Jürgen Deckert und seine Kollegen falsch. Rostock-Lichtenhagen wird in den folgenden Tagen Schauplatz massiver Gewalt.

Randalierer greifen an

Am Samstagabend greifen Randalierer das Asylbewerberheim an, werfen Steine, schlagen Fensterscheiben ein, der erste Molotowcocktail fliegt auf einen Balkon des Asylbewerberheims. Dazu gesellen sich 1.000 bis 2.000 Rostocker. Sie feuern die Randalierer an oder schauen nur zu, bieten Kulisse. "Die haben sich vor Ort dermaßen hochgeschaukelt. Da ging es darum, den Hass auszuleben auf alles, was da war. Ob das das Objekt war, der Balkon, die Polizei, oder ob das andere Menschen waren", erinnert sich Jürgen Deckert. Die Polizei vor Ort wird überrollt von dieser Gewalt, von der Menschenmasse, die auch sie angreift.

Noch nie vorher solche Aggression erlebt

Als Jürgen Deckert am frühen Sonntagmorgen über die Vorfälle informiert wird, fährt er von Bremen sofort nach Rostock zurück, nicht ahnend, dass es der einschneidenste Einsatz seines Berufslebens werden würde. "Ich habe diese Aggression vorher nie erlebt und ich habe sie auch danach nie wieder erlebt", beschreibt er heute die Situation. Eine Situation, für die Jürgen Deckert vor Ort gar nicht genügend Einsatzkräfte hat und für deren Ausmaß die Polizisten nicht ausgerüstet sind. "Hier und da waren schon Einsatzanzüge verteilt worden. Die meisten Polizisten sind aber mit einem normalen Blouson in den Einsatz gegangen. Ohne Hut und ohne Helm sozusagen. Das war natürlich in gewisser Weise dramatisch. Sie können, wenn sie mit Steinen beworfen werden, die nicht alle wegfangen. Und dann zieht man sich zurück", erzählt Jürgen Deckert.

Ein brennender Wohnblock in Rostock-Lichtenhagen
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Zu der mangelhaften Schutzausrüstung kommt, dass es nicht genügend Funkgeräte gibt, die Kommunikation ist lückenhaft. Bis bei Jürgen Deckert Informationen ankommen, ist die Situation vor Ort schon wieder eine andere. Die Polizei ist zu der Zeit im Aufbau, es gibt noch keine eingespielten taktischen Abläufe, die Polizisten sind verunsichert. "Das waren keine Beamten auf Lebenszeit, die hatten alle einen unterschiedlichen Status. Von Probe, über Widerruf oder einfach nur auf Anstellung, es war schon ganz schön irre. Wenn man juristisch verunsichert ist, dann fehlt einem natürlich auch der Mut, in Anführungszeichen: zuzuschlagen, weil man nicht weiß, darf ich oder darf ich nicht. Dann lieber nicht", erzählt Jürgen Deckert. Hinzu kommt, dass die Polizisten einer völlig durchmischten Gruppe an Menschen gegenüberstehen. "Das ist Lieschen Müller, der können wir doch jetzt nicht eins aufs Dach kloppen. Und daneben steht der Steinewerfer und Lieschen guckt sich das an, was machen wir jetzt?"

Imbissbuden für die Hooligans

Die Lage eskaliert weiter, Rechtsradikale aus der ganzen Bundesrepublik kommen nach Rostock- Lichtenhagen. Es gibt Imbissbuden, die die rechtsradikalen Angreifer und Anwohner mit Getränken und Essen versorgen. Zwar kommen samstags Einheiten aus Schwerin und sonntags aus Hamburg, doch die Polizisten bekommen sie Situation nicht vollständig unter Kontrolle.

Auto der Volkspolizei 1 min
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Die Deutsche Volkspolizei muss ab 1990 neue Aufgaben übernehmen: Zum Beispiel Terroristenbekämpfung. Reporter der Sendung "Klartext" filmen, wie die Polizisten das üben.

Fr 22.06.1990 19:30Uhr 01:04 min

https://www.mdr.de/geschichte/stoebern/damals/video21152.html

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Und wieder eine Fehlentscheidung

Am Montag fällt die Entscheidung, das ZAst zu räumen. Gegen Nachmittag werden die Asylbewerber evakuiert. Jürgen Deckert geht nun davon aus, dass sich die Menge beruhigt und geht einen Deal mit den Randalierern ein. Wenn sie sich zurückziehen, zieht sich auch die Polizei zurück. "Ich habe nur gedacht, wenn das klappt, haben wir keine verletzten Beamten mehr, wir brauchen uns nicht mehr prügeln, können auf Normalität runterfahren."

Doch das Gegenteil passiert. Die Menge macht weiter, bewirft das nun leere Asylbewerberheim und greift das Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter an, das sich im selben Wohnblock wie das ZAst befindet. Trotz der aggressiv aufgeladenen Menge vor dem Wohnheim war das Haus nicht, wie das ZAst, geräumt worden. Nach dem Rückzug der Polizei sind die Bewohner völlig schutzlos.

Molotowcocktails aufs Wohnheim

Heute sagt Jürgen Deckert über seine Entscheidung: "Das war falsch. Total falsch." Der Mob greift das Wohnheim an, wirft Molotowcocktails, das Gebäude brennt, rund 120 vietnamesischen Bewohner, einige Sozialarbeiter und ein Fernsehteam des ZDF sind in dem brennenden Wohnheim eingeschlossen. Die Feuerwehr kommt über eine Stunde nicht zu ihnen durch, die Menge macht den Weg zum Wohnheim nicht frei. Die in den Flammen eingeschlossenen Menschen können sich selbst retten – durch einen Zugang auf das Dach gelangen sie in einen anderen Teil des Gebäudes. Wie durch ein Wunder wird niemand verletzt. Als es der Polizei endlich gelingt einen Korridor zu den Vietnamesen freizumachen, werden sie evakuiert – unter Grölen und Beschimpfungen.

Die Gewaltausschreitungen am Sonnenblumenhaus halten bis in die Mittwochnacht an. "Am [Sonntag] 23.8. war ich 19 Stunden im Dienst, aber insgesamt war ich, meine ich, 66 Stunden im Dienst", erzählt Jürgen Deckert. Den Vorfällen in Rostock-Lichtenhagen folgt die Aufarbeitung. Ermittlungen werden eingeleitet, unter anderem gegen Siegfried Kordus, damaliger Polizeichef in Rostock. Sein Verfahren wird 1994 eingestellt. Gegen Jürgen Deckert wird wegen fahrlässiger Brandstiftung durch Unterlassung ermittelt. 2000 wird auch dieses Verfahren eingestellt. 

(mh)


Über dieses Thema berichtet der MDR auch in der Doku "Was wurde aus der Volkspolizei?": 27.11.2018 | 22:05 Uhr