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Die Bauernproteste zogen sich bis August 1990. Bildrechte: imago/fossiphoto

Bauernproteste, Absatzkrise und WährungsunionMilch in der Gosse und verzweifelte Bauern: Proteste im Jahr 1990

23. Januar 2024, 15:55 Uhr

"Ich kann Ihre 'Aktion' nur als das bezeichnen, was sie ist: Ein Verbrechen!" Solche und ähnliche Sätze prasseln auf den LPG-Vorsitzenden Ernst Liebers Anfang Juli 1990 im Stakkato ein. Die Emotionen kochen hoch, als Liebers und die mit ihm bei einer Protestaktion in Leipzig versammelten Bauern sich erdreisten, aus einem Tankwagen 100 Liter Milch symbolisch in den Rinnstein abzulassen - aus Protest gegen eine von der Politik scheinbar mit Achselzucken abgetane Absatzkrise, die sie, die Bauern, in den Ruin treibt.

von Nils Werner

Der "einfache" Bürger versteht die Welt nicht mehr. Seit dem 1. Juli 1990 muss er im Geschäft deutlich mehr für Milch & Co. bezahlen:

"Kennen Sie die utopischen Preise von Konsum und HO, auch in Leipzig, auch für den Artikel Milch?"

"Solange die Milch für 1,40 M pro Liter verkauft wird, brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass Sie die Milch nicht loswerden. Früher, in den schlechten sozialistischen Zeiten, kostete sie 0,72 M."

Milch: Erst 1,70 Mark, dann nur noch 55 Pfennige

Dass alle Produkte der DDR-Landwirtschaft vor dem 1. Juli 1990 massiv subventioniert wurden, mit zuletzt 32 Milliarden Mark, was stolze zwölf Prozent des gesamten DDR-Staatshaushalts ausmachte (umgerechnet 2.000 Mark pro Kopf und Jahr) - davon hatte der DDR-Bürger irgendwann mal gehört. Beim Blick auf den Kassenzettel und ins eigene Portemonnaie nach der Währungsunion war das jedoch schnell wieder verdrängt. Immerhin: Beim Bürger war etwas in der Geldbörse. Die Kassen der Milchproduzenten dagegen sind schon eine Woche nach der Währungsunion leer. Viele LPGs können ihren Mitarbeitern nicht einmal die Juni-Gehälter ausbezahlen.

Womit auch? Während die Kosten stabil bleiben (die Gehälter werden zum 1. Juli im Verhältnis 1:1 umgestellt), bricht der Gewinn auf der Stelle massiv ein. Standen den Erzeugern für einen Liter abgelieferte Rohmilch 1,70 Mark von Staats wegen zu, sind es nach der Währungsunion und dem Wegfall der Subventionen noch ganze 55 Pfennige (West). Und als wäre das nicht Drama genug, bricht mit der Währungsunion auch noch der Absatz ein. Eine Entwicklung, die sich freilich schon im Frühjahr 1990 abgezeichnet hat.

Die Krise vor der Krise: Wahrenüberschuss in den Schlachthöfen

Am 26. Juni 1990 beschäftigt sich bereits das DDR-Fernsehmagazin "Prisma" mit dem Themas: "Genossenschaften haben keine Einnahmen, müssen Kredite aufnehmen, um laufende Kosten zu schultern. Abnahmeverträge werden gebrochen oder gar nicht erst abgeschlossen."

Damals machten die Tier- bzw. Mastvieh-Produzenten den Anfang. 1989 angehalten, "Menge zu produzieren", um mit Schlachtviehexporten die klamme DDR-Staatskasse zu füllen, legten die Bauern los. Planübererfüllung. Doch der Sekt bleibt diesmal im Schrank, denn mit dem sich abzeichnenden wirtschaftlichen Kollaps aller sozialistischer Bruderländer gehen dort die Schranken runter und 150.000 Schweine in den DDR-Ställen stehen plötzlich "auf Halde". 

An Absatz auf dem heimischen Markt ist gar nicht zu denken. Die DDR-Schlachthöfe sind rappelvoll mit Wurst, Fett und Schweinehälften. Denn es geht auch hier kaum noch was raus, seit die westliche Konkurrenz in der DDR plötzlich mit vermarktet.

Teure West-Produkte: Joghurt für vier Mark, West-Eis für 14,50 Mark

Hans Modrow persönlich hat dafür den Weg geebnet - am 6. Februar schon. Mit einer Regelung, nach der nun nicht mehr eine zentrale Behörde die Importe kontrolliert, sondern jeder Rat des Kreises eigene Import-Lizenzen ausstellen kann. Die Idee dahinter leuchtet ein: Auf diese Weise kann der Handel viel besser und schneller als bislang rare und begehrte West-Ware, wie Südfrüchte, kurzfristig und überall im Land zur Verfügung stellen.

Nur im Westen ist man eben nicht auf den Kopf gefallen und bietet schnell die gesamte Produktpalette an: Wurst, Joghurt, Käse. Damit rennt man beim DDR-Handel offene Türen ein. Schließlich soll sich dieser ganze Bereich schon bald neu organisieren - dezentral und privatwirtschaftlich. Und so machen einige schon mal Bekanntschaft mit neuen, unglaublichen Handelsspannen.

Die Produkte aus dem Westen können nämlich viel teurer angeboten werden als die heimische Ware, für die es (noch) feste Sätze gibt. Und so kommt es, dass an manchem Fruchtjoghurt-Becher ein Preis von schlappen vier Mark (Ost) pappt. Oder der Liter West-Speiseeis für 14,50 Mark über die Theke geht. Doch es wird gekauft. Das Neue, Unbekannte, Bunte zieht. Obwohl die DDR-Produkte nach wie vor deutlich preisgünstiger sind.

Die Idee einer "grünen Grenze"

Doch was tun, angesichts der Lage und zunehmender Berichte über verzweifelte LPG-Bauern? Solche, die ihr Gemüse unterpflügen oder überzähliges Mastvieh "keulen" oder zu Tausenden in die Tierverwertungsanlage karren? Alle Augen richten sich auf die neue Regierung und den parteilosen Landwirtschaftsminister, Peter Pollack, der bereits Ende April erklärt:

Wir müssen eben für eine mehrjährige Übergangsperiode eine 'Grüne Grenze' schaffen. Die ist bei unseren Partnern in der Bundesrepublik nicht unbedingt populär. Aber das muss ein fester Verrhandlungsstandpunkt von unserer Seite sein. Das hat im übrigen auch der Ministerpräsident gesagt, dass wir unserer Landwirtschaft jedweden Schutz angedeihen lassen müssen.

Tatsächlich bekommt der DDR-Ministerrat eine solche Einigung hin. Beschließt sogenannte Kontingentierungen, d.h. auf bestimmte Produkte festgelegte Masse-Beschränkungen bei der Einfuhr. Trotzdem kommt man keinen Millimeter vorwärts. Denn die Idee, den Binnenmarkt damit zu schützen, scheitert an einem zentralen Punkt: Wer soll das alles kontrollieren? Und wo?

Eine echte Zollgrenze müsste dafür her. Nur will die - aus politischem Kalkül - niemand so recht unterstützen. Der DDR-Bürger, längst an die neue Freiheit gewöhnt, könnte Waren-Kontrollen an der Grenze missverstehen. Ein Teufelskreis.

Der Crash: Absturz und Rebellion

Ende Juni 1990: In den Geschäften und Kaufhallen der DDR beginnt der große Ausverkauf. Man deckt sich ein, mit allem was (noch) da ist: Butter, Fleisch, Brot, Konserven. Was jetzt immer noch in den Regalen liegt, wird drastisch preisreduziert. Denn alles soll und muss raus. Die Kunden sollen ab 1. Juli schließlich etwas bekommen für ihr neues, hartes Geld.

Und sie kriegen es. Nicht zuletzt dank tatkräftiger Unterstützung aus dem Bundesfinanzministerium. Denn als die gewaltige LKW-Karawane mit den schönen Westprodukten an den innerdeutschen Grenzübergängen ins Stocken gerät, schickt Theo Waigel dem bundesdeutschen Zoll eine Weisung. Man möge "die Bestimmungen großzügig auslegen". Heißt: Bitte Zoll, winke durch. Der Osten braucht volle Regale.

Und tatsächlich, zumindest in allen größeren Städten kommt die Ware an. Bis zu 80 Prozent der Stellfläche ist in den Ost-Kaufhallen von einem Tag auf den anderen mit ersehnter Westware gefüllt. Nur viel teurer als gedacht - was sofort den Zorn der Käufer nach sich zieht, die mit Boykott und Hamsterfahrten zu den Discountern im Westen drohen. Für die Sorgen und Nöte der heimischen Produzenten bringt man deutlich weniger Interesse oder gar Empathie auf:

Man sucht und knausert. Also ich renne von einem Laden zum nächsten und gucke, wo es am billigsten ist. Schmelzkäse hier, die kleenen Ecken zu 37 Pfennige, die kosten jetzt 80 Pfennige. Und das ist genau noch so ein Gummi.  Ich steht auf dem Standpunkt, ich nehm unsere DDR-Ware, wenn die Qualität stimmt. Aber nicht, dass wir's jetzt teurer bezahlen, als wie wir's früher hatten.

Dresdner Kundin in einer Straßenumfrage | "Prisma", DFF 9.07.1990

Zehntausende Liter Milch aufs Feld

Käufer und Politik sind sich erstaunlich einig: Wollen die DDR-Produzenten künftig im neuen Markt mithalten, müssen sie ihre Ware deutlich billiger anbieten als die Konkurrenz. Nur so lasse sich das Defizit in Aufmachung und Qualität, Geschmack und Haltbarkeit ausgleichen. Niemand scheint gewillt, der eigenen Landwirtschaft und Nahrungsgüterindustrie irgendeinen "Kredit" einzuräumen.

Die Kreditprogramme werden aufgestockt. Doch Geld gibt’s nur, wenn Betriebe valide Bilanzierungen und zukunftssichere Strategien vorweisen. Zu einem Zeitpunkt, an dem nichts mehr sicher ist. Die Milchproduzenten müssen Anfang Juli Zehntausende Liter jeden Tag aufs Neue melken und anschließend verfüttern (soweit möglich) oder auf dem Feld verkippen.

Wir müssen uns wehren. Wir müssen sagen, dass wir da sind. Wenn wir nicht gemuckt hätten, hätten die weiter geschlafen. Gedacht, der Markt regelt's. Nee, der Markt konnte das nicht regeln.

Ernst Liebers | 1990 Vorsitzender der LPG "Vorwärts" Greifenhain/Kreis Geithain

Bauern setzen Politik unter Druck: Wirtschaftskrise in der DDR

Erst in Leipzig (am 10. Juli), dann in Berlin (am 12. Juli), drehen die Milchbauern die Hähne öffentlich auf. Und setzen die Politik damit gehörig unter Druck. Die DDR-Wirtschaft wird binnen Kürze eine Krise von bislang nie gesehenem Ausmaß erleben. Und die Möglichkeiten, diesem Schock zu begegnen, sind äußerst begrenzt.

Allein im Landwirtschaftssektor, in dem man kaum radikale Einstürze eingepreist hat, droht ein gigantischer Kahlschlag. Angetrieben von einem auf West-Seite frohlockend verkündeten Konjunkturprogramm. So teilt der Sprecher der Spar Handels AG im Juli mit, die bundesdeutsche Verarbeitungsindustrie könne wegen des DDR-Geschäfts "in den nächsten sechs Wochen mehr produzieren, als sonst in einem ganzen Jahr verkauft wird". Wenn das nicht Grund zum Jubel ist.

Bauern drohen, Korn zu verbrennen

Am 11. Juli besetzen Bauern im Kreis Wismar Landstraßen und Autobahnzubringer. Die Luft brennt. Als Lothar de Maizière zu Ohren kommt, dass einige damit drohen, das "Korn auf dem Halm" abzubrennen, d.h. die erntereifen Getreidefelder, ist es höchste Eisenbahn. Nur wie lässt sich verhindern, dass die DDR im Chaos versinkt?

Da habe ich den Kanzler angerufen: ‚Wir müssen sofort anfangen. Es wird zwei Milliarden kosten.‘ Fünf Stunden später waren zwei Staatssekretäre in Berlin. Binnen zwei Tagen war die Sache geordnet und wir haben Getreide und eine Million Schweine an die Russen verkauft.

Lothar de Maizière | 1991

Kurz bevor die Lawine voll ins Rollen kommt, hat Lothar de Maizière ("mein schlimmster Tag des Jahres") es noch einmal geschafft, das Chaos abzuwenden. Aber spätestens da schon ist absehbar, dass die DDR weit vor der geplanten Zeit am Ende ist. Die Wirtschafts- und Währungsunion hat diesen absehbaren Konkurs gewaltig beschleunigt.

Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV:MDR Zeitreise | Ersehnt und verflucht - die Westmark erobert den Osten | 28. Juni 2020 | 22:10UhrSo 28.06.

Der Artikel war erstmals im Juli 2020 online.