Ein Jahr nach dem Brand im Bukarester "Colectiv" "Wir haben kollektiv weggesehen"

01. November 2016, 09:56 Uhr

Der Brand am 30. Oktober 2015 im Bukarester Musikclub "Colectiv" gilt als beispiellose Tragödie in Rumänien. Er forderte Dutzende Menschenleben, der Premier musste zurücktreten - und die Aufarbeitung lässt auf sich warten.

Mariana Oprea streift ein Trägerkleid über, schlüpft in die Stöckelschuhe, in den Mantel. Ihr steckt der Arbeitstag in den Knochen, sie ist müde. "Komm, es ist Freitagnacht", motiviert sich die junge Architektin fürs Ausgehen in ihren Lieblingsclub "Colectiv" - einen der angesagtesten Musikclubs in Bukarests Innenstadt.

Am 30. Oktober 2015 gibt es dort ein Gratiskonzert. Die Luft ist zum Schneiden dick, es wird geraucht, es ist rappelvoll. Gegen 22:30 Uhr feiern rund 400 junge Leute zur Musik der Metal-Band "Goodbye to Gravity". Offiziell dürften im Club nur ein Fünftel der Fans sein - der Raum ist für 80 Menschen zugelassen. Auf der Bühne zündet ein Feuerwerk. Die Fans jubeln, während Funken fliegen.

Laxe Sicherheitsvorkehrungen

Als Architektin weiß Mariana, dass ihr Lieblingsclub grobe Sicherheitsmängel hat. Es gibt beispielsweise nur einen Notausgang. "Ich dachte, bessere Underground-Clubs haben wir in Bukarest nicht. Alles war improvisiert. Darüber haben wir kollektiv weggesehen." Als der Saal Feuer fängt, steht Mariana rauchend an der Bar, weit weg vom Ausgang. Sie bleibt ruhig. Sie wiegt sich in Sicherheit. 'Gleich kommt jemand, um den Brand zu löschen', denkt sie. Sekunden später: Panik, Angstschreie von Hunderten Menschen, die versuchen, den Flammen zu entkommen. 64 Personen sterben im Club oder Tage und Monate später an ihren Verbrennungen, an Rauchvergiftungen, an Infektionen.

Fürs Leben gezeichnet

Mariana überlebt den Brand schwer verletzt. Jener Abend verändert ihr Leben komplett, nicht nur, weil sie im Anschluss monatelang im Krankenhaus liegen muss. Die medizinische Behandlung ist bis heute nicht abgeschlossen. Ihr Oberkörper ist mit Brandnarben übersät, sie hat noch drei von zehn Fingern. Wie wäscht sie sich so, zieht sie eine Strumpfhose an, bindet sie die Schnürsenkel? Ohne die Hilfe ihrer Mutter käme die 29-Jährige nicht durch den Alltag. In dieser Woche kritisierte sie in der einheimischen Presse, dass sich zu wenig getan hätte. Manche Musikclubs seien in Sachen Sicherheit schlechter aufgestellt als der Club "Colectiv" vor einem Jahr.

Schlampig arbeitende Behörden

Ob öffentliche Gebäude Brandschutz haben, kontrolliert in Rumänien das Inspektorat für Notfallsituationen (ISU). Auch der "Colectiv"-Club stand auf der Liste zweier Prüfer. Die Sicherheitsmängel machten sie allerdings nicht aktenkundig, einen ISU-Brandschutznachweis hatte der Club ebenso wenig. Warum hatten die Bukarester ISU-Kontrolleure nichts unternommen? Hätten sie das Unglück, das so vielen jungen Menschen das Leben kostete, verhindern können?

Alles unbequeme Fragen, auf die der Bukarester Journalist Catalin Tolontan, der seit einem Jahr in dem Fall recherchiert, Antworten haben will. Er fand heraus, dass mehrere ISU-Inspekteure in ihrer Freizeit für private Brandschutz-Beraterfirmen arbeiten, um ihren Durchschnittslohn von monatlich rund 600 Euro aufzubessern. "Warum sollten die Prüfer die Sicherheitsmängel an die eigene Behörde melden, wenn sie sich damit einen guten Nebenverdienst sichern können?", fragt Tolotan.

Regierung zu Fall gebracht

Tausende Bukarester gingen nach dem "Colectiv"“-Unglück auf die Straße. Wütend sprachen sie von dilettantisch funktionierenden Behörden, die ihre Bürger nicht ausreichend schützen würden. Sie wollten nicht mehr länger darüber hinwegsehen. "Das Unglück hat die gesamte Gesellschaft erschüttert", meint Tolotan. "Wir denken jetzt mehr an unser Leben". Die Proteste brachten vor einem Jahr die Regierung von Premier Victor Ponta zu Fall. Eine Behörden-Reform aber dauert länger.

60 Inspektoren für eine Millionenstadt

Noch heute haben allein in der rumänischen Hauptstadt Hunderte Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser oder Musikclubs keinen Brandschutznachweis. Tausende Menschen gehen dort täglich ein und aus. Wie sicher die Gebäude wirklich sind, vermag die ISU-Behörde erst zu sagen, wenn sie sie geprüft hat.

Derzeit durchforsten 60 Inspektoren die Millionenstadt. Bei schätzungsweise 40.000 registrierten öffentlichen Objekten, schrieb Journalist Tolontan in seinem Blog, bräuchten sie dafür zwei bis drei Jahre. Bis dahin entscheiden die Betreiber, wie riskant ihr Gebäude ist und ob sie es schließen oder nicht. Die meisten sind Laien auf diesem Gebiet.

Der Chef aller ISU-Behörden im Land, Raed Arafat, setzt auf Verantwortung. Nach dem Brandunglück im "Colectiv" gab es im Land einen Kaufansturm auf Feuerlöscher, Rauchmelder und Sprinkleranlagen. "Für Sicherheit sorgen nicht nur die ISU-Inspekteure", meint Arafat. "Auch die Besitzer müssen verstehen, dass es in ihrem Interesse ist, dass ihr Gebäude sicher ist."

Je improvisierter, desto besser

Bukarest war bis zum Brandunglück ein angesagter Partyort in der alternativen Musikszene. Allerorten gab es improvisierte Clubs in leeren Fabriken oder verlassenen Lagerhallen, die jungen Partygänger waren von der Regellosigkeit begeistert. Nach dem "Colectiv"-Unglück hieß es auf Facebook: "Ihr Kriminellen, Ihr tötet Menschen."

Auch Clubbesitzer Florin Oslobanu musste sich solche Vorwürfe anhören. "Kein Betreiber eines Undergroundclubes hat je gedacht, dass er Menschenleben aufs Spiel setzt", nimmt Oslobanu seine Branche in Schutz. Vor Jahren hat der Geschäftsmann seinen "Control"-Club aus einem improvisierten Lagerkeller in ein solide ausgebautes Restaurant verlegt - nicht aus Sicherheitsgründen, sondern aus Platzgründen. Jetzt aber zahlt sich seine Entscheidung aus.

Wirtschaftlich unrentabel

Nach dem Unglück war Oslobanu der einzige in Bukarests Innenstadt, der seinen Alternativclub weiter betreiben durfte. "Ich hatte acht Brandschutzkontrollen in zwei Wochen", sagt der Bukarester, "gefunden haben die ISU-Inspektoren nur Kleinigkeiten". Der Rest der Veranstalterszene hat laut jüngstem Regierungsentscheid bis Mitte 2017 Zeit, die improvisierten Orte in sichere Clubs zu verwandeln. "Das wird sich für viele Betreiber wirtschaftlich gar nicht rechnen", glaubt Olsobanu, "wir sprechen schließlich ein junges Publikum an, das niedrige Preise von uns erwartet."

Die Angst bleibt

Mariana Oprea geht seit einigen Monaten wieder aus, um Freunde in Clubs zu treffen, Musik zu hören, um auf andere Gedanken zu kommen. Seit dem "Colectiv"-Unglück hat sie Angst vor offenem Feuer. Sie ist den Flammen zu nahe gekommen. Sie weiß, in Bukarest wird man die Sicherheitsdiskussion noch über Jahre führen müssen. Sie hat sich deshalb ihre eigene Strategie zugelegt. Sie steht jetzt immer am Ausgang. "Dann komme ich schneller raus, falls was passiert."