Zelt eines Protestcamps. Davor sotzen einen Mann und ein künstliches Skelett.
Mit einem Protestcamp vor dem bulgarischen Parlament fordern Mütter von Kindern mit Behinderung von der Regierung mehr finanzielle Hilfe. Bildrechte: Frank Stier

"Das System tötet uns" Wie bulgarische Mütter für ihre behinderten Kinder kämpfen

04. Juli 2018, 17:19 Uhr

Bulgarien gewährt Menschen mit Behinderung kaum staatliche Unterstützung, obwohl es sich vertraglich dazu verpflichtet hat. Nun will eine Müttervereinigung die Regierung zum Umdenken zwingen. Ihr Protest weitet sich auf ganz Bulgarien aus und hat prominente Unterstützer.

Auf den Straßen der bulgarischen Hauptstadt Sofia begegnet man selten Menschen mit Behinderung. Nicht dass es sie nicht gäbe, ihre auffällige Abwesenheit ist aber ein Zeugnis davon, dass Menschen mit Behinderung in Bulgarien weit weniger mobil und in die Gesellschaft integriert sind als im übrigen Europa.

Protestcamp gegen Vernachlässigung durch die Politik

Seit Anfang Juni gibt es jedoch einen Ort, an dem man in Sofia viele von ihnen trifft. Im Park direkt gegenüber des Abgeordneteneingangs der bulgarischen Volksversammlung haben Mütter von Kindern mit Behinderung ihr Zelt aufgeschlagen. Dort konfrontieren sie Tag für Tag ihre Volksvertreter mit ihrer Forderung nach einer radikalen Reform der staatlichen Fürsorge für Menschen mit Behinderung.

Das Zelt der protestierenden Mütter ist mit schwarzen Ballons geschmückt, davor steht ein Grabstein. Er soll das Ende der UN-Behindertenrechtskonvention in Bulgarien symbolisieren. Bulgarien hat die Konvention zwar unterzeichnet, erfüllt die damit eingegangene Verpflichtung aber nicht, seinen behinderten Bürgern die volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, kritisieren die Aktivistinnen.

Denn nach Angaben des bulgarischen Kinderschutz-Dachverbands, der "Konföderation zum Schutz der Rechte der Kinder", benötigen 80.000 Menschen mit Behinderung einen persönlichen Assistenten zur Bewältigung ihres Alltag. Allerdings bekommen nur 14.000 von ihnen diese Unterstützung. Der Rest erhält vom Staat eine Monatspauschale von umgerechnet 45 Euro und muss sich seine Hilfe selbst organisieren.

Aufschrei quer durch die Gesellschaft

Am Eingang des Protestcamps in Sofia sitzt ein künstliches Skelett. Es trägt ein schwarzes T-Shirt mit der weißen Aufschrift: "Das System tötet uns". Vor einigen Wochen wurde den protestierenden Müttern der Zugang zum Parlament verwehrt, weil sie die gleichen schwarzen T-Shirts trugen und damit laut Parlament "nicht der Würde des Hohen Hauses entsprechend gekleidet" waren.

Bundeskanzlerin Angela Merkel steht neben dem bulgarischen Ministerpräsidenten Boyko Borissov
Der bulgarische Ministerpräsident Boyko Borissov gibt sich gerne als überzeugter Europäer. Doch bei verschiedenen EU-Konventionen bleibt Bulgarien außen vor. Bildrechte: picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Es folgte ein Aufschrei der Empörung quer durch die bulgarische Gesellschaft. Die öffentliche Erregung rückte das Thema ins Rampenlicht und heizte den Protest der Mütter weiter an. Aufgeschreckt durch die Wucht der Protestbewegung reichte der bulgarische Sozialminister Biser Petkov seinen Rücktritt ein. Ministerpräsident Boiko Borissov lehnte diesen jedoch ab und forderte von seinem Minister, ihm "das Thema vom Hals zu schaffen". Seitdem ist der Funke des Protests aus der Hauptstadt auch auf die Provinz übergesprungen. Inzwischen gibt es auch in Varna, Burgas, Vratsa, Haskovo, Dobrich und Silistra Protestcamps.

Organisierter Protest für mehr Hilfe

Das Anliegen der Mütter hat mittlerweile namenhafte Unterstützer. So trägt der TV-Moderator Slavi Trifonov in seiner allabendlichen Late-Night-Show derzeit das schwarze T-Shirt und hält das Thema in den Schlagzeilen. Trifonov werden aber auch politische Ambitionen nachgesagt und ihm wird vorgeworfen, die protestierenden Mütter und ihrer Kinder für seine Zwecke zu instrumentalisieren.

"Das ist Unsinn. Wir lassen unseren Protest nicht missbrauchen. Slavi Trifonov ist einfach ein verständiger und einfühlsamer Mensch, der unseren Kampf unterstützt", sagt Kristina Nikolaeva. Die Mutter eines achtjährigen autistischen Sohnes gehört zu den Frauen, die vor dem Parlament protestieren: "Als wir die Diagnose unseres Sohnes Ljubi erfuhren, wollten wir sie zunächst nicht wahrhaben. Doch schließlich mussten wir uns mit der Situation arrangieren. Und jetzt kämpfen wir dafür, sie zu verbessern", sagt Nikolaeva.

Vor drei Jahren gründete Kristina Nikolaeva mit Mitstreiterinnen die "Konföderation zum Schutz der Rechte der Kinder". Seitdem organisiert sie zwei Mal jährlich nationale Protesttage. "Dieses Mal führen wir unseren Protest bis zum Ende", sagt Nikolaeva entschlossen, "bis das Parlament das neue Gesetz zur persönlichen Hilfe verabschiedet hat".

Gesetzesentwurf soll Hilfe gewährleisten

Helfen soll den Müttern dabei die Ombudsfrau des Parlaments, Maja Manolova. Sie hat gemeinsam mit den Aktivistinnen eine Novelle des Gesetzes für persönliche Hilfe erarbeitet und will diese ins Parlament einbringen. "Unser Gesetzentwurf sieht vor, dass künftig jeder Mensch mit Behinderung individuell betrachtet wird und die Unterstützung erhält, die seinen Bedürfnissen entspricht: vom Kindergarten über die Ausbildung bis zum Arbeitsleben", fasst Aktivistin Nikolaeva die Novelle zusammen.

Denn Bulgarien sei bislang das einzige Land innerhalb der EU, in dem Menschen mit Behinderung oder ihre Eltern jedes Jahr aufs Neue staatliche Hilfe beantragen müssen. Die finanziellen Mittel dafür reichten aber bei weitem nicht aus, um allen Menschen eine persönliche Unterstützung zu gewähren, auf die sie laut UN-Behindertenrechtskonvention Anspruch haben, erklärt Nikolaeva: "Wir wollen, dass Bulgarien dem Modell anderer europäischer Länder folgt. In Holland verfügen Menschen mit Behinderung über ein persönliches Budget für persönliche Hilfe. In unserem Land sind sie hingegen Bittsteller gegenüber dem Staat."

Hoffnung trotz geringer Chancen

Frau gibt in einem Park Interview und ist von Journalisten umringt
Ombudsfrau Maja Manolova bei ihrem Besuch des Protestcamps Ende Juni. Bildrechte: Frank Stier

Spontaner Applaus brandet auf, als Ombudsfrau Maja Manolova am Zeltlager erscheint. "Das Gesetz zur persönlichen Hilfe ist ein Schlüssel zur Realisierung der Grundrechte von Menschen mit Behinderungen", diktiert sie in die Mikrofone der wartenden Journalisten. Es sei unhaltbar, dass Menschen mit Behinderung "auf Programme und Projekte angewiesen sind, die von Beamten geschrieben wurden, die mit den Bedürfnissen und Nöten dieser Menschen gar nicht vertraut sind".

Den Finanzbedarf für die Umsetzung des Gesetzes veranschlagt Manolova auf umgerechnet 52 Millionen Euro: "Mit diesem Geld kann jedem behinderten Menschen in Bulgarien die individuelle Unterstützung gewährt werden, die er benötigt, um an unserer Gesellschaft teilzunehmen." Maja Manolova hofft, dass die Abgeordneten die Debatte über ihre Gesetzesnovelle zügig aufnehmen, dann könnten sie das Gesetz noch vor der Sommerpause abstimmen.

Die Chancen, dass das Gesetz eine parlamentarische Mehrheit erhalten wird, sind aber gering. Die konservativ-nationalistischen Mehrheitsfraktionen der Regierungskoalition haben Gegenvorschläge zur Reform der staatlichen Behindertenfürsorge unterbreitet. So dürfte das Thema auch in der im Herbst beginnenden neuen Sitzungsperiode des Parlamentss seine Brisanz behalten.

Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: Radio | 06.01.2018 | 13:22 Uhr